Immer mehr Flüchtlingsboote kommen auf den Kanarischen Inseln an. Was sind die Gründe dafür und was ist mit der Mittelmeer-Route?
Die zu Spanien gehörenden kanarischen Inseln werden immer mehr zum Flüchtlingshotspot. Die gefährliche Route über den Atlantik auf die sieben großen Inseln (Teneriffa, Fuerteventura, Gran Canaria, Lanzarote, La Palma, La Gomera und El Hierro) wird für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika wieder attraktiver. Bereits Mitte der Nullerjahre wurde sie häufig genutzt. Ablösen könnte die Atlantikroute gar die Mittelmeer-Flüchtlingsroute als Hauptmigrationsroute nach Europa und in die EU.
Eine Erklärung für die wiederentdeckte Route dürfte sein: Die kanarischen Inseln liegen relativ nah an Kontinentalafrika. Das mühselige und gefährliche Durchqueren der instabilen Sahel-Staaten sowie der Sahara würde sich umgehen lassen.
"Die Route gibt es ja bereits seit 2006. Aber tatsächlich haben in den vergangenen zwei bis drei Jahren die Zahlen auf den Kanaren ankommender Flüchtlinge wieder zugenommen", sagt Alexander Geiger, Direktor des "African Union Cooperation Office" sowie des "Flight and Migration Competence Center" der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit Sitz in Äthiopien auf Anfrage unserer Redaktion.
Experte: "Zunahme auf Atlantikroute ist auf einen Ausweicheffekt zurückzuführen"
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 haben laut Berliner Morgenpost mehr als 7.200 Migranten die Kanarischen Inseln per Boot erreicht. Neuere Zahlen verdeutlichen den Ansturm auf die Inselgruppe noch besser. Allein in den ersten beiden Oktoberwochen sollen mehr als 8.560 Migranten angekommen sein, wie das ZDF auf Grundlage von Daten aus dem spanischen Innenministerium berichtet.
Allerdings spielt laut Geiger "sehr wahrscheinlich auch die Grenz-Externalisierungs-Politik" der EU und der Mitgliedstaaten in Nordafrika eine Rolle. "Hier wird versucht, Mobilität bereits auf dem afrikanischen Kontinent in Richtung Nordafrika/Mittelmeer einzuschränken, damit gar nicht erst Menschen bis zum Mittelmeer gelangen, um von dort dann die Überfahrt zu versuchen." Insofern sei die Zunahme auf der Atlantikroute wohl auch auf einen Verdrängungs- oder Ausweicheffekt zurückzuführen, sagt Geiger.
In den vergangenen Wochen war der raue Atlantik vor der (nord-)westafrikanischen Küste relativ ruhig gewesen, das Wetter verhältnismäßig mild. Das erleichtert natürlich Überfahrten in einfachen Pirogen, also Holzbooten, oder motorisierten Gummibooten. Wie die Berliner Morgenpost weiter berichtete, rechnet der spanische Seenotrettungsdienst damit, dass der Migrationsdruck Richtung Kanaren in den nächsten Herbstwochen nicht nachlassen wird.
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"Armut, politische Instabilität sind Hauptgründe für die Flucht"
Die Kanarischen Inseln liegen nur etwa 100 bis 150 Kilometer vor der Küste des Kleinstaates Westsahara beziehungsweise eine Tagesreise von dem an Westsahara angrenzenden Marokko entfernt.
Oftmals starten die Flüchtlinge von Senegal, Gambia oder Guinea aus. Viele kommen aus diesen Ländern, einige kommen auch aus Mali, Sierra Leone oder Burkina Faso. "Armut, politische Instabilität, die generelle schlechte wirtschaftliche Lage sind hier sicher Hauptgründe für die Flucht", unterstreicht Geiger.
Nicht selten stranden die Flüchtlinge wegen starker Strömungen in den marokkanischen Gewässern. Allein in Marokko sollen in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 26.000 illegale Einwanderungsversuche unterbunden worden sein. 2022 lag die Gesamtzahl bei etwa 71.000. Das berichtete die Berliner Morgenpost kürzlich und berief sich auf marokkanische Behörden.
Auf den Kanaren herrscht Platzmangel an vielen Orten
Auch die Zahl derjenigen, die es nach Spanien schaffen, ist laut Medienberichten seit Jahresbeginn um mehr als 30.000 angestiegen. Das sei eine Zunahme von 15 Prozent gegenüber 2022. Die meisten Ankünfte (23.537) werden derzeit auf den Kanarischen Inseln registriert. Laut ZDF 80 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2022.
Da die Kanaren auf den Flüchtlingsstrom nicht vorbereitet gewesen sind, herrscht Platzmangel an vielen Orten. Man weiß nicht, wohin mit den vielen Menschen aus Afrika. Während die einzelnen Verwaltungen der Kanarischen Inseln massive Schwierigkeiten haben, den Flüchtlingsstrom zu managen – einige werden, wie in El Hierro, in einem leerstehenden Kloster einquartiert – schaffen viele auch nicht die Überfahrt. Hunderte von Migranten ertrinken auf der gefährlichen Überfahrt nach Europa.
Nach Zählung des UN-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) kamen allein auf der Atlantikroute Richtung Kanaren seit Januar 2023 mehr als 400 Menschen ums Leben. Die Zahl nicht offiziell erfasster Todesfälle dürfte weitaus höher liegen.
Über den Gesprächspartner:
- Alexander Geiger ist Direktor des "African Union Cooperation Office“ sowie des "Flight and Migration Competence Center" der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit Sitz in Addis Abeba, Äthiopien.
Verwendete Quellen:
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