Ende vergangenen Jahres hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) im "Spiegel"-Interview gefordert, "im großen Stil" abzuschieben. Ein entsprechendes Gesetzespaket wurde im Januar beschlossen – doch das rechnet nur mit 600 zusätzlichen Abschiebungen im Jahr. Migrationsexperte Herbert Brücker hält Abschiebungen im großen Stil für nicht möglich. Er rät der Politik bei den Fakten zu bleiben und warnt vor falschen Erwartungen.
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.
Das Interview, das Olaf Scholz heute noch nachhängt, wurde im Oktober 2023 geführt. Im "Spiegel" hatte der Kanzler damals gefordert: "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben." Das Magazin druckte den Kanzler mit ernstem Blick und aufeinander gepressten Lippen im Porträt, schrieb von "neuer Härte" des Kanzlers und davon, dass er irreguläre Migration zur "Chefsache" erkläre.
Was ist davon geblieben? Kann Scholz sein Wort halten? Abschiebungen sind seit 2015 immer wieder Streitthema im Bundestag. Die Forderung, mehr und schneller abzuschieben, ist nicht neu. Mit einem fünften Reformpaket, das die Ampel Anfang des Jahres unter dem Namen "Rückführungsverbesserungsgesetz" beschlossen hat, will Scholz sein Versprechen einlösen.
Scharfe Kritik aus der Opposition
Das Gesetzespaket sieht unter anderem vor, den sogenannten "Ausreisegewahrsam" auf 28 Tage zu verlängern, Abschiebungen künftig nicht mehr anzukündigen, Schleuser härter zu bestrafen und wiederholt Straffällige schneller abzuschieben.
Aus der Opposition kommt scharfe Kritik an dem Gesetz. In der ZDF-Sendung "Maybrit Illner" sagte CDU-Mann Jens Spahn, 2023 seien 1.000 Menschen täglich eingereist, von denen die Hälfte das Land sofort wieder hätte verlassen müssen. Das Rückführungsverbesserungsabkommen sehe nur rund 600 Abschiebungen mehr vor – im Jahr. Die Effekte des Gesetzes seien daher minimal.
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Relativ kleinen Kreis von Menschen
Migrationsexperte Herbert Brücker sagt: "Die Zahlen von Herrn Spahn sind sachlich nicht haltbar." Von den 2,2 Millionen Schutzsuchenden – Ukrainer ausgenommen –, die sich 2022 zum Jahresende in Deutschland aufhielten, sei nur in zwölf Prozent der Fälle – also bei etwa 255.000 – der Schutzantrag abgelehnt worden. "Davon wiederum waren nur etwa 36.000 vollziehbar oder latent ausreisepflichtig. Der Rest war geduldet", rechnet Brücker vor.
Diese Menschen seien zwar grundsätzlich ausreisepflichtig, die Verwaltung oder Politik habe aber entschieden, sie vorläufig nicht abzuschieben – etwa aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie eine Beschäftigungsduldung haben. "Das heißt: Es geht eigentlich nur um einen relativ kleinen Kreis von Menschen, der überhaupt rechtlich abgeschoben werden kann oder soll", erinnert Brücker.
Das Maximum liege bei den besagten 255.000. "In der Tendenz sinkt außerdem der Anteil der Menschen, die abgelehnte Asylanträge haben", sagt er weiter. Viele Menschen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, würden überdies freiwillig das Land verlassen.
Quote von über 80 Prozent
Jens Spahn habe vermutlich nur die Zahl der Asylanträge zitiert, die in der erstinstanzlichen Entscheidungsstatistik vom Bundesamt für Migrations- und Flüchtlinge als positiv beschieden auftauchen – das sind knapp über 50 Prozent. "Bei den restlichen Anträgen werden 20 bis 25 Prozent abgelehnt, der Rest erledigt sich auf sonstigen Wegen – etwa bei Dublin-Fällen", erklärt der Experte.
Bei den abgelehnten Anträgen wiederum würden viele Menschen Widerspruch einlegen und den Instanzenweg gehen. "Dabei gibt es sehr häufig außergerichtliche Einigungen mit dem Bundesamt für Migrations- und Flüchtlinge, das dann die Anträge eben doch anerkennt. Oder es kommt zu Gerichtsverfahren", sagt Brücker. Am Ende hätten 2022 nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes bei den endgültig entschiedenen Fällen 86 Prozent der Fälle einen rechtlich anerkanntem Schutz- oder Aufenthaltsstatus. Wenn man Härtefälle und die direkte Aufnahme von Schutzsuchenden ohne Asylverfahren herausrechne, liege die Schutzquote immer noch bei 80 Prozent.
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Das System funktionierte besser als in der Öffentlichkeit dargestellt
"Das ist eine völlig andere Zahl, als sie in der Öffentlichkeit häufig transportiert wird. Die Zahl, dass die Hälfte wieder ausreisen müsse, ist empirisch einfach falsch", bekräftigt der Experte. Er ist sich sicher: Das Asylsystem funktioniere besser, als in der Öffentlichkeit dargestellt.
Die "bis zu 600 Abschiebungen", die das Rückführungsverbesserungsgesetz zusätzlich erreichen will, rät Brücker mit Vorsicht zu betrachten. "Sie kann höher, aber auch noch niedriger sein", meint er. Bei den rund 36.000 Menschen, die vollziehbar oder latent ausreisepflichtig seien, scheitere eine Abschiebung oft daran, dass die Herkunftsländer, in die abgeschoben werden soll, nicht mitspielen.
"Das betrifft vor allem nordafrikanische Länder. Und bei manchen Ländern – Afghanistan und Syrien – verzichtet die Bundesregierung generell auf Abschiebungen", zeigt Brücker auf. Zu den weiteren Abschiebungshinderungsgründen würden auch gesundheitliche Probleme der Ausreisepflichtigen oder die Beschäftigungs- und Ausbildungsduldung zählen.
Abkommen mit Herkunftsländern
"Die Gemengelage ist kompliziert, aber der Anteil, der abgeschoben wird, hängt wesentlich davon ab, wie sich die Abkommen und Vereinbarungen mit den Ländern, in die abgeschoben werden soll, neu gestalten", ist sich der Experte sicher. Dies sei der entscheidende Hebel – und nicht ein Gesetz, das erst mal nur auf dem Papier stehe, aber praktisch nicht wirksam durchzusetzen sei.
"Dass die meisten Menschen legitime Schutzansprüche haben, hat Scholz in dem berühmten Spiegel-Interview schlicht nicht erwähnt", kritisiert Brücker. Das sei eine wichtige Auslassung. Menschen, die rechtlich anerkannte Schutzansprüche haben, könne man nicht abschieben.
"Selbst, wenn man alle diese Personen, die man juristisch abschieben könnte, abschieben würde, würde das Geschehen quantitativ nicht wesentlich beeinflusst werden. Das sollte die Bundesregierung eigentlich wissen", kommentiert der Experte. Es gehe daher ohnehin nicht um "Abschiebungen im großen Stil".
Die Politik erzeuge mit solchen Aussagen Erwartungen, die sie am Ende nicht einlösen könne. "Das erschüttert das Vertrauen in die Politik und ist deshalb kein besonders kluges Vorgehen", meint Brücker. Natürlich könne man argumentieren, dass ein Asylsystem diejenigen, die keine Schutzansprüche haben, auch abschiebt – das sei die Grundlage der Rechtsordnung. "Man sollte aber bei den Fakten bleiben und die besagen, dass die große Mehrheit rechtlich anerkannte Schutzansprüche hat", betont der Experte.
Über den Experten:
Prof. Dr. Herbert Brücker ist seit 2005 Leiter des Forschungsbereichs "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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