Wie sehr muss man unter einem Regime leiden, dass man es in Kauf nimmt, auf der Flucht womöglich erschossen zu werden? Während der deutschen Teilung nahmen Hunderte Menschen dieses Risiko auf sich, mindestens 136 bezahlten dafür mit ihrem Leben. Im Jahr 1964 aber gelang es 57 Menschen, durch den sogenannten "Tunnel 57" in den Westen zu flüchten. Wir haben mit einem der Flüchtlinge von damals gesprochen.
3. Oktober 1964: Wochenlang haben Dutzende Menschen an der Grabung eines Tunnels mitgearbeitet, der es Menschen aus Ostberlin ermöglichen soll, in den Westen zu fliehen. 145 Meter ist der Schacht von der Strelitzer Straße im Osten bis in die Bernauer Straße im Westen lang, aber nur 80 Zentimeter hoch. Wer frei sein will, muss kriechen.
Über allem schwebt die Angst vor der Entdeckung durch DDR-Grenzsoldaten, ausgestattet mit Kalaschnikow und Schießbefehl. Und dennoch war der Wunsch nach Freiheit größer als die Angst. Einer der Menschen, denen damals die Flucht gelang, bevor der Tunnel von der Staatssicherheit entdeckt wurde, war der damals 20-jährige Hans-Joachim Tillemann*. Hält man sich das Risiko vor Augen, muss die erste Frage natürlich lauten:
Warum wollten Sie unbedingt weg?
Ich bin ja in Ostberlin aufgewachsen. Aber ich kannte natürlich Westberlin, hatte Verwandte dort. Es war ja eine Stadt! Die S-Bahn fuhr, man konnte über die Grenze gehen. Vor 1961 war das ja alles sehr gemäßigt. Aber mit dem Mauerbau war dann Schluss. Da wurde einem bewusst: Moment mal, jetzt bist Du hier eingesperrt. Zudem fing man in der DDR an, das Ziel zu verwirklichen, den Sozialismus stärker aufzubauen. Repressionen nahmen zu, man durfte keine Westsender mehr im Radio hören, wurde verfolgt.
Man merkte dann schon, es passiert was in diesem Land. Und man kennt das ja: Heult man mit den Wölfen, gibt's ein paar Privilegien, dann bekommst Du einen Knochen mehr. Oder du tauchst ab in der breiten Masse, passt dich an. Da kamen so viele Dinge zusammen, sodass man sich fragte: Welche Perspektive hast du? Da kam mir der Gedanke mit Freunden, wir versuchen es. Ein erster Versuch ist gescheitert. Und dann wurden wir verhaftet - dass einen die DDR-Justiz dann so abstraft, das hätte keiner gedacht.
Wie lange waren Sie im Gefängnis?
Acht Monate. Wir dachten eigentlich, wir kriegen eine Verwarnung oder Bewährung. Das widersprach also auch diesem humanistischen Anspruch, den die DDR immer vorgeschoben hat. Danach dachte man sich: Ok, es geht nicht anders. Und dann kam der Moment, in dem ich durch meine Verwandtschaft erfuhr: Da gibt's eine zweite Fluchtmöglichkeit. Da muss man dann erst mal mit sich ringen, welches Risiko auf einen zukommt.
Es gab drei Möglichkeiten: durchkommen, erwischt werden oder vielleicht sogar erschossen werden. Dann haben wir uns entschlossen, wir machen's. Die lebten am Rand von Berlin, hatten ein Haus, ein Grundstück, waren alt, brauchten keine Perspektive mehr, hatten ihr Auskommen. Mein Vater hat dann nach acht Jahren auch seinen Trabant bekommen und war glücklich. (lacht)
Wie sah denn dieser erste Fluchtversuch aus?
Wir wollten über die grüne Grenze in einer Laubenkolonie. Das war 1963, das war noch nicht so abgesichert wie später. Da konnte man mehr oder weniger über den Zaun klettern. Aber natürlich wurde da kontrolliert und die Wachposten haben uns überrascht. Ich hätte aber nie gedacht, dass der Staat dann mit so einer Härte reagiert. Dabei hat man immer gesagt, die jungen Leute müssen gefördert werden, den jungen Leuten muss man eine Chance geben. Und dann wurde man schonungslos inhaftiert, in den Gerichtsverhandlungen richtig zur Schnecke gemacht. Das war schon eine sehr schmerzliche Erfahrung.
Und dann also der zweite Fluchtversuch.
Ja, denn es stand zudem die Musterung zur Nationalen Volksarmee an, worauf ich nun gar keine Lust hatte, nachdem sie mich acht Monate eingesperrt hatten.
Wie lange dauerte die Flucht durch den Tunnel?
Bestimmt 10, 15 Minuten. Das kann man aber nicht sagen, man verliert jegliches Zeitgefühl. Vorher auch das Adrenalin, die Angst, erwischt zu werden. Dann schafft man's, kommt durch diesen Hausflur, steigt in den Tunnel ein und kriecht los. Und dann ist einem alles andere egal. Dann denkt man nicht, könnte mir was auf den Kopf fallen? Man weiß, man kommt hinten an und es ist geschehen.
Und wie ist das dann, wenn man aus dem Tunnel steigt?
Dann ist alles gut, man wusste ja, man ist im Westen. Es gab ja viele Fluchtversuche, da wussten die gar nicht, sind sie jetzt im Westen oder im Osten, wenn sie zum Beispiel durch Flüsse geschwommen sind oder die Ballonfahrer. Natürlich baut sich die Anspannung erst langsam ab, das ist klar.
Nicht für alle geht die Flucht durch den Tunnel 57 so gut aus. Unter den Flüchtlingen hat sich ein Mitarbeiter der Stasi eingeschlichen, der die Behörden informiert. Am 4. Oktober 1964 stürmen DDR-Grenzsoldaten das Haus, in dem der Tunneleingang liegt, es kommt zu einem Schusswechsel. Der Fluchthelfer Christian Zobel trifft dabei den Soldaten Egon Schultz an der Schulter. Schultz ist nur verwundet, geht zu Boden und wird beim Aufstehen im Kugelhagel von einem seiner Kollegen versehentlich erschossen. Das DDR-Regime behält diese Tatsache jedoch aus Propagandazwecken für sich und beschuldigt "Westberliner Terroristen". Zobel ist bis zu seinem Tod in den 1980er-Jahren davon überzeugt, Schultz getötet zu haben.
Wie geht es dann weiter? Bekommt man einfach so neue Papiere?
Meine Ostpapiere hatte ich dabei, das war auch das Einzige, was man mitnehmen konnte. Aber dann bekam man alles, was man brauchte. Westberlin war nach 1961 ja relativ leer, kann man so salopp sagen. Viele Leute hatten Angst, dass die Russen einmarschieren. Viele Häuser standen leer. Arbeitsplätze gab's massenhaft, es war überhaupt kein Problem, eine Wohnung zu kriegen. Wir haben vom ersten Tag an gleich Arbeitslosengeld gekriegt. Da war keiner, der gesagt hat: "Was wollt Ihr hier?" Wir konnten hier sofort Fuß fassen.
Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?
Natürlich gut, endlich war sie weg! Es war ja schon eine Last mit dieser dämlichen Grenze. Wir haben uns nach der Flucht ein Bauernhaus in Westdeutschland gekauft, weil es ja im umliegenden Brandenburg nicht möglich war, weil wir eingemauert waren. Und da sind wir immer hin- und hergefahren, die Transitstrecke fiel ja auch schon fast auseinander. Und wenn man nur 105 gefahren ist, sprangen sie schon aus dem Busch und haben abkassiert. Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dieses ganze Prozedere, diese Warterei an der Grenze, diese Herren in ihren schicken Uniformen, diese Stempel, Gebühr bezahlen, Visum beantragen. Es war übel!
Von daher war es natürlich gut, dass es vorbei war. Und wenn man es genau betrachtet – die Zeit war reif. Stellen Sie sich das mal heute vor, mit diesen ganzen Medien, die Kommunikation. Das mit der DDR, das hätte doch gar nicht funktioniert. Es musste passieren!
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