Nur das gesunde Kind sollte zur Welt kommen. So war es mit der Mutter vereinbart. Zwei Ärzte verabreichten dem anderen Zwilling, bei dem eine massiven Hirnschädigung festgestellt wurde, beim Kaiserschnitt eine tödliche Dosis Kaliumchlorid.
Zwei Berliner Frauenärzte setzten während einer Zwillingsgeburt per Kaiserschnitt tödliches Kaliumchlorid ein, weil nur das gesunde Kind leben sollte. Mehr als neun Jahre später urteilte das Landgericht Berlin am Dienstag: Es war Totschlag.
Gegen einen damaligen Chefarzt erging eine Strafe von einem Jahr und neun Monaten Haft auf Bewährung. Eine 58-jährige Oberärztin erhielt ein Jahr und sechs Monate auf Bewährung. Die Angeklagten hätten sich "bewusst über geltendes Recht hinweggesetzt". Die Verteidigung kündigte bereits Rechtsmittel an. Damit wird der Fall vor den Bundesgerichtshof gehen.
Wann wird aus einem Fötus rechtlich gesehen ein Mensch? Bis zu welchem Zeitpunkt ist eine "Spätabtreibung" zulässig? Darum wurde im Prozess debattiert. Nun zeigten die Mediziner äußerlich keine Regung, als sie harte Worte zu hören bekamen.
"Auch Feld-, Wald- und Wiesenärzte wissen, dass es verboten ist, ein Kind im offenen Mutterleib totzuspritzen", sagte der Vorsitzende Richter Matthias Schertz. Mit Eröffnung des Uterus habe die Geburt begonnen. Somit habe kein Schwangerschaftsabbruch vorgelegen. "Ein Aussortieren eines kranken Kindes am offenen Mutterleib – das ist nicht hinnehmbar", so der Richter weiter.
Eltern hatten sich für Spätabtreibung entschieden
Die Mutter der eineiigen Zwillinge war in der 32. Schwangerschaftswoche, als es im Juli 2010 zur Geburt kam. Bereits zuvor hatte es Komplikationen gegeben, weil sich die Föten die mütterliche Plazenta teilten. Bei einem Zwilling wurde zudem eine massive Hirnschädigung festgestellt. Die Eltern hätten sich nach ausführlicher Beratung zu einer Spätabtreibung des kranken Zwillings entschieden, hieß es im Prozess.
Der Eingriff hätte jedoch nur vor, nicht nach Beginn der Geburt vorgenommen werden dürfen, so die Anklage. Mit Beginn der Eröffnungswehen beziehungsweise im Fall eines Kaiserschnitts mit Eröffnung des Uterus werde dem Strafrecht zufolge aus dem Fötus ein Mensch. Die Staatsanwältin hatte auf Bewährungsstrafen von jeweils einem Jahr und sechs Monaten plädiert.
Die Verteidiger argumentierten, ihre Mandanten seien von einer zulässigen Spätabtreibung im Mutterleib ausgegangen. Sie hätten "den maximal sicheren Weg für den gesunden Fötus" gehen wollen. Eine medizinische Indikation für einen späten Abbruch habe vorgelegen.
Die Eltern der Zwillinge hätten sich für einen sogenannten selektiven Fetozid entschieden. "Wir waren der Meinung, dass ein Fötus ein Fötus ist, solange er in der Gebärmutter ist", so die Angeklagten. Ihre Anwälte plädierten auf Freispruch. Im Zivilrecht beginne die Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit der Vollendung der Geburt. Eine normative Korrektur sei erforderlich.
Rechtslage sieht nur "selektiven Fetozid" vor Kaiserschnitt als gültig
Unglaubhaft seien die Einlassungen der Angeklagten, sagte nun Richter Schertz. Sie seien äußerst erfahren und hätten glänzende Karrieren gemacht. Sie hätten den Wunsch der Mutter der Zwillinge, nur das gesunde Kind zur Welt zu bringen, umsetzen wollen - "komme, was wolle".
Die beiden Ärzte könnten sich auch nicht auf einen Notstand berufen. Als die Nabelschnur des kranken Zwillings abgeklemmt und Kaliumchlorid injiziert wurde, hätten "keinerlei Gefahren für den gesunden und schon entbundenen Zwilling gedroht".
Zulässig wäre ein "selektiver Fetozid" durch die Bauchdecke und vor dem Kaiserschnitt gewesen, hieß es weiter im Urteil. Dies sei zwar laut Gutachten "mit einem gewissen Risiko" für den gesunden Zwilling verbunden gewesen. "Aber so ist die derzeitige Rechtslage." Wenn man in einem solchen Fall jegliches Risiko ausschließen wolle, "bleibt nur die Geburt beider Kinder".
So hatte es auch die Staatsanwältin gesehen. "Die Alternative waren zwei lebende Babys: eins gesund, das andere behindert", sagte sie im Plädoyer. Das behinderte Mädchen wäre nach einem Gutachten wohl ebenfalls lebensfähig gewesen. Wie die Anklägerin gingen die Richter von einem Totschlag in einem minderschweren Fall aus.
Die beiden Angeklagten verließen den Gerichtssaal schweigend. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, droht der noch in einer Klinik tätigen Oberärztin der Verlust der Approbation. Zu dem Verfahren um die Zwillingsgeburt war es nach einer anonymen Anzeige im Sommer 2013 gekommen. Der Verfasser schrieb, er sei Mitarbeiter einer Berliner Geburtsklinik und könne in seiner Klinik praktizierte Spätabtreibungen nicht mehr hinnehmen. © dpa
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