Fast 8.000 Vermisstenmeldungen sind 2014 bei der Polizei eingegangen. Viele Abgängige kehren bald zurück – doch in manchen Fällen bleiben Angehörige spurlos verschwunden. Wie bei Leopoldine Raidl: Seit ihr Mann vermisst ist, quälen sie viele Fragen.
Was bleibt, sind die Ungewissheit und quälende Fragen als ständige Begleiter. Ende November 2013 verlässt Leopoldine Raidls Mann Norbert das Haus in Niederösterreich - und kehrt nicht mehr zurück. "Warum ist er gegangen? Wo ist er? Ist ihm etwas zugestoßen?" Anfangs hatte sie fürchterliche Schuldgefühle. Ihr Mann litt an Depressionen, war verzweifelt. "Ich hatte Angst um ihn. Irgendwann kam die Angst um mich dazu, denn plötzlich ist so vieles auf mich eingestürzt." 43 Jahre waren die beiden verheiratet, teilten Alltag und Aufgaben. Leopoldine Raidl bleibt mit all dem allein zurück. "Wer so etwas nicht erlebt, der kann sich das nicht vorstellen", sagt die 69-Jährige.
Im Jahr 2014 haben Angehörige in Österreich nach Angaben des Bundeskriminalamts (BK) fast 8.000 Menschen als vermisst gemeldet: Jugendliche, die nach einem Streit ausreißen, Kinder, die im Sorgerechtsstreit von einem Elternteil entführt werden, Asylbewerber, die ihre Unterkunft verlassen. Viele Abgängige kehren nach kurzer Zeit zurück. Andere können die Einsatzkräfte nur noch tot bergen: Menschen etwa, die in den Bergen verunglückt sind, orientierungslose Senioren, Selbstmörder. "Nur ganz selten gehen Erwachsene einfach weg", sagt Mario Hejl, Sprecher des Bundeskriminalamts. Anfang März sind 824 Menschen als abgängig erfasst: davon 452 Erwachsene, 225 Jugendliche und 147 Kinder. Über zwei Drittel sind männlich.
Vermisst - wer hilft?
In einem Vermisstenfall ist zunächst die nächst gelegene Polizeistation zuständig. Als "kompletten Unsinn" bezeichnet Hejl die Annahme, ein Mensch dürfe erst nach 48 Stunden als abgängig gemeldet werden. "Sobald ich Sorge habe, kann ich mich an die Polizei wenden." Es gibt klare Regeln, wann die Beamten sofort handeln: etwa bei Hinweisen auf einen Unfall, ein Verbrechen, Suizid oder wenn ein Kind oder ein hilfloser Erwachsener abgängig sind. "Die Beamten befragen zunächst das Umfeld. Wenn nötig, suchen sie mit Hundestaffeln, Hundertschaften und Hubschraubern." Längerfristig setze man auf die Medien. "Sind wir allen Hinweisen nachgegangen, wird die Suche zunächst eingestellt." Seit 2013 gibt es beim BK auch das Kompetenzzentrum für abgängige Personen (KAP): Die Mitarbeiter vernetzen alle, die an Vermisstenfahndungen beteiligt sind.
Leopoldine Raidl war der Einsatz der Beamten zu wenig: "Ich habe anfangs so viele Hoffnungen in die Polizei gesetzt", sagt sie. Jedoch weiß sie auch: Ein Erwachsener darf sein gewohntes Umfeld verlassen. Sie sucht weiter: Dass Norbert Raidl lebt, davon geht sie aus. Wenige Wochen nach seinem Verschwinden hatten Zeugen ihn gesehen. Sie schreibt E-Mails, klappert mögliche Anlaufpunkte ab, geht an die Öffentlichkeit. Jedoch ohne Erfolg. Unterstützung findet sie bei Christian Mader, der eine Website zur Unterstützung von Angehörigen von Vermissten betreibt. Er leitete früher die Abgängigenfahndung der Bundespolizeidirektion Wien. "Es fehlte eine Homepage, die die rechtlichen Aspekte beleuchtet und Hilfe anbietet", betont er. Er will verzweifelten Menschen bei der Suche helfen, und sie dazu ermutigen, sich auszutauschen.
Wenn es keine Antworten gibt
Helga Kernstock-Redl vom Berufsverband Österreichischer PsychologInnen erklärt, in welcher Situation sich Angehörige von Abgängigen befinden: "Unser Gehirn sucht automatisch nach Möglichkeiten: Verschiedenste Szenarien werden durchgespielt." Angst oder Schuldgefühle brächten fast immer innere Schreckensbilder mit sich, die das ursprüngliche Gefühl noch verstärkten. "Alles, was offen oder unklar bleibt, ist wie eine Geschichte, der das Ende fehlt. Das macht den Abschluss des inneren Suchprozesses schwierig und den Trauerprozess kompliziert", sagt Kernstock-Redl. Das Gehirn suche mit Ausdauer nach Antworten.
Auch Leopoldine Raidl kommt nicht zur Ruhe: Sucht Antworten. Auf die Frage nach dem Warum sowieso. Aber auch andere Gedanken plagen sie: "Wo kommt man so lange unter – ohne Geld, ohne Kleidung?" Sie denkt an Kloster als mögliche Zufluchtsorte. Ihr Mann, der Medikamente nahm und oft zum Arzt ging, benutzt seine Versichertenkarte nicht. Hat seit seinem Verschwinden kein Geld abgehoben. Manche sagten ihr, sie solle endlich abschließen und ihr Leben leben. "Es geht nicht. Die Gedanken und Gefühle sind dauernd da."
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