Das vergleichsweise kleine Land ist bekannt für politische und wirtschaftliche Stabilität. Neben der Landwirtschaft setzt man auf IT- und Software-Dienstleistungen. Warum der Mythos des Vergleichs mit der Schweiz überholt ist.

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Es gibt Länder, da braucht man nur ein Stichwort zu nennen und jeder weiß, welches gemeint ist. Und dann gibt es Länder, die sind so unter dem Wahrnehmungsradar, dass es einen Vergleich braucht, damit man sich etwas darunter vorstellen kann. Ein Land letzterer Kategorie ist Uruguay in Südamerika. Vor vielen Jahren gab ihm jemand den Beinamen "die Schweiz Südamerikas" – inzwischen wurde das Bild zigfach und zunehmend unreflektiert reproduziert, aber dadurch nicht unbedingt präziser.

Rein äußerlich kann der Vergleich kaum gemeint sein: Uruguays Fläche ist gut viermal so groß wie die der Schweiz, entspricht etwa der Hälfte Deutschlands. Dafür ist die Bevölkerung von rund 3,5 Millionen Menschen weniger als halb so groß als die der Schweiz mit 8,7 Millionen. Die Schweiz ist bekannt für die Alpen und ihre Berge, es geht hoch hinaus: Die Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv in den Walliser Alpen ragt 4.634 Meter in die Höhe. Dagegen ist der Cerro Catedral in der uruguayischen Sierra Carapé mit 513 Metern Höhe eher ein Hügel.

Uruguay und die Schweiz: Ähnlichkeiten eher bei "inneren Werten"

Offenbar muss sich der Vergleich auf "innere Werte" bezogen haben. Hohe Lebensqualität, politische Solidität, wirtschaftliche Stabilität und herausragende Produkte – von der Schokolade über Uhren bis hin zum Bankenwesen: Dafür war die Schweiz stets bekannt; und sie repräsentieren durchaus auch das, was das moderne Uruguay ausmacht.

Tatsächlich liegt Uruguay in Lateinamerika bei vielen Kennziffern ganz vorne: Erster in Sachen Demokratie (Economist), zweiter beim Inclusive Development Index 2018 des World Economy Forums, hinter der Steueroase Panama. Führend auch beim Rechtstaatsindex für Lateinamerika, World Justice Project oder World Internal Security & Police Index des Institute for Economics and Peace für Lateinamerika oder in Sachen Korruptionsbekämpfung (Transparency International). Das alles sind beinahe europäische Werte, zumindest jedoch Spitzenwerte in der Region.

Vergleich Uruguays mit der Schweiz ist nicht mehr zeitgemäß

"Der Vergleich wird eigentlich nicht mehr benutzt", sagt Marnix van Iterson unserer Redaktion. Der Ex-Banker ist heute Unternehmer und seit Jahren in Argentinien und Uruguay. Als die Schweiz das Bankgeheimnis lockerte und der Bank Credit Suisse beim Untergang zusah, hatte Uruguay schon lange aus Fehlern gelernt.

Bis zur Jahrtausendwende litten die Wirtschaft und der Finanzsektor des Landes, wenn die großen Nachbarn Brasilien oder Argentinien eine Krise durchlebten – was regelmäßig vorkam, in Argentinien vor allem 2001/02. Zudem wurden rigide und effektive Kontrollsysteme gegen Korruption und Geldwäsche eingeführt. "Uruguay hat seine Hausaufgaben sogar besser gemacht als die Schweiz", sagt van Iterson.

Flugzeugabsturz von 1972 noch immer Thema

Aber vielleicht sei das Leben in Uruguay einfach auch weniger aufgeregt und ereignisärmer als in vielen anderen Ländern. "Die Menschen hier unterhalten sich noch immer über einen Flugzeugunfall aus dem Jahr 1972", nennt van Iterson ein Beispiel.

Der Fuerza-Aérea-Uruguaya-Flug 571, ein Flug der Luftwaffe, war auf dem Weg von Montevideo nach Santiago de Chile. Die Maschine vom Typ Fairchild-Hiller FH-227 zerschellte am 13. Oktober 1972 an einem Berghang in den Anden in 4.000 Metern Höhe. Nach 72 Tagen im Eis konnten 16 von 45 Insassen, Spieler und Betreuer einer Rugbymannschaft, gerettet werden – um zu überleben hatten sie teilweise ihre gestorbenen Mannschaftskameraden gegessen.

Statt Schweiz ist Uruguay eher das Singapur Südamerikas

Auch Kira Potowski, Geschäftsführerin der Auslandshandelskammer (AHK) in Montevideo, hält den Vergleich im Gespräch mit unserer Redaktion für überholt. "Man spricht inzwischen vom Singapur Lateinamerikas." Die Politik verstehe Uruguay als einen Hub und arbeite daran, immer unternehmensfreundlicher zu werden und so den wirtschaftlichen Einstieg in die Region zu ermöglichen. So sollen Neugründungen von Unternehmen in nur einem Tag möglich werden. Der Hafen von Montevideo ist ein Freihafen, dazu gibt es im ganzen Land mehrere Freihandelszonen.

Doch die Investitionsfreundlichkeit hat auch Grenzen, denn Uruguay ist nicht für jede Form von Investment geeignet. Bodenschätze gibt es so gut wie keine und auch der Binnenmarkt ist mit rund 3,4 Millionen Einwohnern eher klein. Zudem sind die Personalkosten mit denen in Europa vergleichbar. Billigproduktionen bieten sich also weniger an, wohl aber technisch hochwertige Dienstleistungen etwa im IT- oder Softwarebereich. In Sachen Energieversorgung kann sich Uruguay zu 95 Prozent mit Wasser- und Windenergie versorgen. "Wir erleben inzwischen eine zweite Energiewende", sagt Potowski. "Der Fokus liegt dabei auf grünem Wasserstoff."

Uruguay gegenüber China eher vorsichtig

Auch ist Uruguayer vorsichtig bei Geschäften von und mit China. Große Hafen- und andere Infrastrukturprojekte, die China etwa in Peru aus dem Boden stampft, sind in Uruguay weniger erwünscht beziehungsweise benötigt. Allerdings spielt China durchaus als Abnehmer von Fleisch und Soja eine wichtige Rolle.

Ähnlich wie die großen Nachbarn Argentinien und vor allem Brasilien sieht sich Uruguay in Sachen Landwirtschaft als Ernährer der Welt. Fleisch, Soja, Mais, Reis und andere Dinge für 1,5 bis 2 Milliarden Menschen kommen alleine aus diesen drei Ländern. Auch Uruguay trägt mit landwirtschaftlichen Produkten für 60 bis 80 Millionen Menschen dazu bei. Der Wasserreichtum des Landes ist eine wichtige Voraussetzung – fast überall gibt es genügend Zugang zur oftmals knappen Ressource.

Smart Farming und Zellstoff für Papierproduktion

Dabei hat das romantische Klischee der Gauchos auf dem Pferderücken, die Vieh und Pferde auf den weiten Ebenen hüten, längst ausgedient. Uruguays Landwirtschaft ist seit Langem im Hightech-Zeitalter angekommen – Smart Farming und modernes Wassermanagement werden immer mehr zum Standard. Der finnische Papierriese UPM baute schon in den 1990er-Jahren in Paso de los Torros eine moderne Fabrik für Paperpulp, einen pflanzlichen Zellstoff, unter anderem der Rohstoff für unsere Onlineshop-Kartonagen. Auch beim Umgang mit der Legalisierung, dem Anbau und Vertrieb von Cannabis ging Uruguay früh eigene, neue Wege.

Selbst wenn es nun so aussieht, als würde eine Menge richtig gemacht, gibt es freilich auch unrühmliche Kapitel. Galt der alte Schweiz-Vergleich ursprünglich bis in die 1950er-Jahre, wurde die Prosperität zwischenzeitlich durch eine Militärdiktatur unterbrochen (1973 bis 1985) – wie in fast allen Nachbarländern auch. Die Kriminalität, immer noch eine der niedrigsten des Kontinents, hat in den letzten Jahren zugenommen.

Kriminalität hat in letzten Jahren zugenommen

Die Organisation Insight Crime beobachtet vor allem einen Anstieg der Bandenkriminalität. "Das traditionell friedliche Land erlebt einen stetigen Anstieg von Kriminalität und Unsicherheit, der größtenteils mit Drogenhandel und kleinen Bandenaktivitäten zusammenhängt. Die Zahl der Morde, die Korruption und die Präsenz der organisierten Kriminalität haben in den letzten Jahren zugenommen. Diese Entwicklungen disqualifizieren Uruguay zwar noch nicht als den 'guten Schüler' Lateinamerikas, doch stellen diese Probleme ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko für das Land dar", heißt es im Länderreport der Organisation.

Auch bei Suiziden verzeichnet das Land, das als eines der zufriedensten gelten sollte, eine für die Region erstaunlich hohe Rate. Und das, obwohl beispielsweise die Schere zwischen Arm und Reich in Uruguay weit weniger auseinanderklafft als beispielsweise in Brasilien. Zwei Drittel der Bevölkerung gelten als der Mittelschicht zugehörig, ein solides gesellschaftliches Fundament.

Große politische Linien sind parteiübergreifend unstrittig

Die politische Kultur des Landes ist recht entspannt. Nicht nur ist das Parlamentsgebäude in Montevideo Besuchern ohne Voranmeldung frei zugänglich – man kann es ohne Kontrollen oder Anmeldung betreten. Auch im Diskurs geht es sehr gesittet zu.

Als der Stadt Montevideo im Jahr 2023, befeuert vom Wetterphänomen La Niña, das Trinkwasser auszugehen drohte, räumte der frühere Präsident José "Pepe" Mujica (2010 bis 2015) in einem Interview politische Versäumnisse ein. "Manchmal machen wir einen Fehler, wenn es um Prioritäten geht. Wir hätten das Wasserproblem schon viel früher angehen sollen", sagte Mujica in einer im Fernsehen übertragenen Stellungnahme laut "Bloomberg".

Mujica tat dies stellvertretend für alle uruguayischen Regierungschefs der letzten Jahrzehnte – ohne dafür öffentlich und medial zerrissen zu werden. Die Anekdote steht exemplarisch für den politischen Grundkonsens, der in vielen Politikfeldern herrscht. Egal ob rechtsgeführte oder linke Regierung: Die großen Linien werden von beiden Lagern verfolgt. Wobei die politische Landschaft weit weniger polarisiert ist als das zurzeit etwa in Europa zu beobachten ist, aber natürlich auch bei den Nachbarn in Argentinien und Brasilien.

Und wenn ein Vergleich zwischen der Schweiz und Uruguay überhaupt in einem Bereich Sinn ergibt, dann wohl am ehesten in Sachen Fußball. Zumindest in der aktuellen Fifa-Weltrangliste rangieren die beiden eng beieinander: Uruguay belegt aktuell den 15. Platz – übrigens vor Deutschland –, während die Schweiz Rang 19. Belegt.

Verwendete Quellen

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