Der brisante Fall Oury Jalloh steht möglicherweise vor einer spektakulären Wende. Bislang hieß es, der Asylbewerber habe sich 2005 in seiner Zelle in Dessau selbst angezündet und sei dabei gestorben. Nun aber ist plötzlich die Rede von gezielter Vertuschung eines Mordes durch Polizei und Justiz. Und es gibt weitere Fälle.

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Es ist ein ungeheuerlicher Verdacht von beispielloser Tragweite, sollte er sich als wahr erweisen.

Haben Dessauer Polizisten versucht, Todesfälle zu vertuschen?

Wurde der Asylbewerber Oury Jalloh 2005 von Polizeibeamten in seiner Zelle angezündet, um Beweise für körperliche Misshandlung zu vernichten?

War Oury Jalloh möglicherweise kein Einzelfall?

Gefesselt auf seinem Bett verbrannt

Der 36-jährige Asylbewerber aus Sierra Leone hatte bei seiner Festnahme durch die Polizei ärztlichen Angaben zufolge fast drei Promille Alkohol sowie Spuren von Kokain im Blut.

Wenige Stunden nach seiner Festnahme starb er am 7. Dezember 2005 in dem Dessauer Polizeirevier in der Wolfgangstraße 25.

Jalloh war auf seinem Zellenbett liegend verbrannt, gefesselt an Händen und Füßen.

In zwei Prozessen kamen Richter damals zu dem Schluss, dass er den Brand selbst gelegt hatte.

Bereits im November hatte das ARD-Magazin "Monitor" allerdings berichtet, mehrere Sachverständige kämen zum Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die These einer Selbstanzündung. Daraufhin teilte die Staatsanwaltschaft Halle mit, es gebe keine neuen Erkenntnisse.

Nun aber steht die Frage im Raum, ob dies so richtig ist.

Oberstaatsanwalt erkennt Indizien für vertuschten Mord

Der Oberstaatsanwalt in Dessau, Folker Bittmann, geht schließlich durchaus davon aus, dass Oury Jalloh angezündet und die Tat vertuscht worden sein könnte.

Das berichten nun die "Mitteldeutsche Zeitung" sowie der Deutschlandfunk, die Akteneinsicht hatten. Sie berufen sich auf ein Dokument in den vorliegenden Unterlagen.

Darin sei ein Vermerk Bittmanns vom 4. April 2017, der die These vom Unfalltod Jallohs nach einem neuen Brandtest von 2016 recht deutlich verwirft.

Demnach gilt ein anderes Szenario als weitaus wahrscheinlicher. Und dieses würde dem Fall eine dramatische Wendung geben: Oury Jalloh sei mit einer geringen Menge Brandbeschleuniger übergossen und angezündet worden.

Bittmann, schreibt die "Mitteldeutsche Zeitung", gehe nicht mehr von Selbstentzündung, sondern Mord durch Polizisten aus.

Der Oberstaatsanwalt vermute, dass zugefügte Verletzungen vertuscht werden sollten. Zudem spreche gegen die Theorie der Selbstanzündung, dass Jalloh bei Ausbruch des Feuers laut eines medizinischen Gutachtens wohl bereits handlungsunfähig oder sogar tot gewesen sein soll.

War Oury Jalloh kein Einzelfall?

Die Polizisten könnten befürchtet haben, "dass schwere Verletzungen oder gar das Versterben eines weiteren Häftlings neuerliche Untersuchungen auslösen würden", zitiert die Zeitung aus dem Aktendokument. Das "mag zu dem Entschluss geführt haben, mit der Brandlegung alle Spuren zu verwischen".

Der Vermerk birgt doppelte Brisanz: einerseits den Tötungs- und Vertuschungsverdacht gegen Polizeibeamte, andererseits die Andeutung, dass es Parallelen zu weiteren Todesfällen in Verbindung mit der Dessauer Dienststelle in der Wolfgangstraße 25 gebe.

Und tatsächlich: Im Dezember vor 20 Jahren war ein alkoholisierter Mann von Polizisten aufgegriffen und in besagtes Revier gebracht worden, berichtet die "Mitteldeutsche Zeitung". Wenig später wurde der sterbende Mann mit schweren inneren Verletzungen nur wenige Häuser vom Revier entfernt aufgefunden.

Ein weiterer Fall dann 2002. Ein Obdachloser starb in Zelle 5 der Dessauer Dienststelle. Er wurde mit einem Schädelbasisbruch am Boden liegend tot aufgefunden, berichtet die Zeitung.

Oberstaatsanwalt plötzlich vom Fall entbunden

Es war dieselbe Zelle, in der auch Oury Jalloh drei Jahre später verbrannte. In beiden Fällen habe es Ermittlungen gegen Polizisten gegeben.

Offenbar enthält der Aktenvermerk des Dessauer Oberstaatsanwaltes auch Aussagen zu Tatverdächtigen. Die Namen seien allerdings in dem der "Mitteldeutschen Zeitung" vorliegenden Dokument geschwärzt.

Oberstaatsanwalt Bittmann hatte auf Grundlage seiner neuen und hochbrisanten Erkenntnisse damals ein Verfahren eingeleitet.

Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg in Sachsen-Anhalt entzog ihm allerdings plötzlich den Fall und übertrug ihn an die Staatsanwaltschaft Halle.

Diese hatte zuletzt die Ermittlungen überraschend eingestellt, weil keine weitere Aufklärung zu erwarten sei.

Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad sowie die leitende Oberstaatsanwältin Heike Geyer begründeten im Rechtsausschuss des Magdeburger Landtags diesen Schritt mit der Behauptung, dass es für die Mord-These an Oury Jalloh keine Hinweise gebe. Folglich sei das Verfahren eingestellt worden.

Aussage von Rechtsmediziner hat politische Sprengkraft

Dieser Aussage aber widerspricht Rechtsmediziner Gerold Kauert gegenüber dem WDR. Kauert war als Brandgutachter in den Fall Oury Jalloh direkt involviert.

"Zwischen den Sachverständigen bestand Einigkeit darüber, dass vom bisherigen Ablauf des Todesgeschehens von Oury Jalloh nicht mehr ausgegangen werden kann", betont er. "Die Theorie der Selbstanzündung erschien nicht mehr Gegenstand des Möglichen."

Es ist eine Aussage mit enormer politischer Sprengkraft. Zusammen mit dem brisanten Aktenvermerk des ausmanövrierten Oberstaatsanwalts Folker Bittmann erschüttert er aktuell die "Kenia"-Koalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt.

Die Linke im Landtag von Sachsen-Anhalt fordert nun nicht nur einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Feuertod von Oury Jalloh, sondern auch den Rücktritt von Landesjustizministerin Anne-Marie Keding (CDU). "Juristische Aufklärung ist ebenso notwendig wie politische", sagte die Linken-Innenexpertin Henriette Quade.

Der Landtag sei über den Stand der Ermittlungen mehrmals falsch informiert worden.

Landtag erhält Einsicht in die Akte "Oury Jalloh"

Zudem sei der These, Jalloh könnte vor fast 13 Jahren in der Gefängniszelle ermordet worden sein, viel zu lange nicht nachgegangen worden.

Ein Vorwurf, den Swen Ennulat, ein früherer Dessauer Staatsschützer, gegenüber dem WDR bestätigt: "Es gab nur die Version: Oury Jalloh hat sich angezündet. Jeder, der etwas anderes sagt, wurde geschnitten, wurde schikaniert."

Am heutigen Freitag, fast 13 Jahre nach dem Feuertod des Asylbewerbers, erhält der Landtag von Sachsen-Anhalt Einsicht in die Ermittlungsakten.

Es ist davon auszugehen, dass das letzte Wort im Fall Oury Jalloh noch nicht gesprochen ist.

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