Seit Monaten kommt es im ostafrikanischen Kenia bei landesweiten Demonstrationen und Protesten zu Gewaltszenen und tödlichen Ausschreitungen. Bisher sind Medienberichten zufolge 27 Menschen von der Polizei erschossen worden. Hunderte von Verletzten gebe es. Mehr als 300 Personen sollen im Zuge der Proteste festgenommen worden sein. Besonders Mitte Juli ist die Lage auf den kenianischen Straßen eskaliert.
Die von der Opposition seit Februar dieses Jahres initiierten Proteste richten sich gegen die Regierung von Präsident William Ruto (56), der erst seit September 2022 im Amt ist und dem seither viel Widerstand entgegenweht. Dabei geht es vor allem um ein neues Finanzgesetz, das eine Steuerreform vorsieht. In Folge dieser Steuererhöhungen werden vor allem Benzin (von acht auf 16 Prozent) und Grundnahrungsmittel für die Kenianerinnen und Kenianer bald deutlich teurer. Aber nicht nur das. Auch die staatliche Krankenversicherung für Arbeitnehmer soll teurer werden. Zudem sollen Subventionen auf Grundnahrungsmittel reduziert werden. Verteuerungen also, die der Einzelne direkt spürt.
Verwaiste Straßen in der kenianischen Hauptstadt
"Die Steuererhöhungen waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", erklärt Beate Schindler-Kovats, Leiterin des Regionalbüros des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) mit Sitz in Kenia im Telefongespräch mit unserer Redaktion. An diesem Mittwochmittag, dem 19. Juli, sitzt sie in ihrem Home-Office, kann nicht ins Büro fahren, da die Straßen "verwaist" sind. Ein untypisches Bild für die sonst so belebten Straßen der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Schulen, Kindergärten und Universitäten seien geschlossen, der öffentliche Verkehr "bestreikt" – als Vorsichtsmaßnahme vor der "chaotischen Lage", sagt Schindler-Kovats. Läden und Schaufenster seien verrammelt.
Die Opposition hat an diesem Mittwoch erneut zu einem dreitägigen landesweiten Aufstand aufgerufen. Präsident Ruto indes versprach, dass die Polizei "standhaft gegenüber Kriminellen, Banden, Anarchisten und allen Leuten, die Chaos verursachen wollen", bleibe.
Alle Demonstrationen hat die Polizei verboten und davor gewarnt, dass die Sicherheitskräfte hart durchgreifen würden. Das rief das UN-Menschenrechtsbüro und Menschenrechtsorganisationen auf den Plan. Sie kritisierten "unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, einschließlich der Verwendung von Schusswaffen" und forderten, "das Recht der Bürger auf freie Versammlung und friedlichen Protest zu schützen".
Viele der rund 47,5 Millionen Menschen in Kenia seien aufgrund der Corona-Pandemie sowie der weltweit hohen Inflation und der Energiekrise regelrecht verarmt, sagt Schindler-Kovats. Zu Zeiten der Pandemie waren die Benzinpreise auf dem Kontinent überall drastisch angestiegen. Eine Preissenkung nach dem Ende der Pandemie blieb aber aus. Viele Regierungen müssen zudem die Steuern erhöhen, um ihre hohen Schulden, mitunter bei der Weltbank und bei China, zurückzahlen zu können. So auch Nairobi, wo die Gesamtverschuldung auf 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen ist.
Wachsende Armut, steigende Preise und politische Unruhen
Auch ist zu beobachten, wie die Mittelschicht immer mehr erodiert und die Armen immer ärmer werden. Der größte Slum Afrikas soll sich in Nairobi befinden. Besonders in den berüchtigten Armenvierteln wächst Tag für Tag der Unmut über die gestiegenen Preise, die nur noch wenige bezahlen können, und die eigene Perspektivlosigkeit.
Es sind vor allem junge Menschen, die protestieren und dabei Gewalt anwenden. Sie plündern, zerstören Einrichtungen, Läden und Bushaltestellen, liefern sich Schlachten mit der Polizei, wie auf Videos zu sehen ist. "Es sind in erster Linie Randalierer aus den Slums", mutmaßt Beate Schindler-Kovats. Entweder seien sie gekauft oder leicht zu instrumentalisieren. Die Wut treibe sie an.
Der Großteil der Bevölkerung trägt laut Schindler-Kovats die erneuten Proteste gegen steigende Benzin- und Lebensmittelpreise zwar mit, ist aber gegen Gewaltexzesse und Zerstörung. Es sei nur ein kleiner Teil von "perspektivlosen jungen Männern, die das Land ins Chaos stürzt. Dies ist keine politische Willensbekundung, sondern nur Protest aus Protestwillen."
Dass die gegenwärtige Krise im Land immense Folgen für die kenianische Wirtschaft hat, ist offenkundig. "Das Wirtschaftswachstum wird unter den Unruhen leiden", ist sich Schindler-Kovats sicher, die trotz der langanhaltenden Proteste und Unruhen Kenia noch lange nicht als "Krisenstaat" sieht. "Kenia ist und bleibt stabiler als alle angrenzenden Staaten."
Internationale Investoren schauen gen Nairobi
Auch das Image als sicheres Urlaubsland könnte bröckeln. Von der Hauptstadt Nairobi aus werden Safaris ins Naturschutzgebiet Maasai Mara und in den Amboseli-Nationalpark mit Blick auf den 5.895 Meter hohen Kilimandscharo in Tansania organisiert. Ein Touristenmagnet, auch für deutsche Urlauber – bisher. "Es könnte Konsequenzen wegen der Bilder, die ja um die ganze Welt gehen, geben", meint Schindler-Kovats. Der Tourismus ist eine der Haupteinnahmequellen, neben Agrarprodukten, Tee und Kaffee.
Der Plan hinter Rutos umstrittenen Steuererhöhungen war es, den Staatshaushalt zu sanieren, um Investoren nicht zu vergraulen. Stattdessen dürfte das Gegenteil eingetreten sein. Wegen der Unruhen – die Verhandlungsaufrufe der einflussreichen Kirchen werden noch nicht erhört – dürften sich nun potentielle Investoren genau überlegen, ob ein Engagement in Kenia sicher und ratsam ist.
Für die Verabschiedung des kürzlich vereinbarten Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kenia, das Einfuhrzölle entfallen lassen soll, sind die Unruhen kontraproduktiv. Bevor das Abkommen in Kraft treten kann, müssen noch das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten zustimmen. Wie die ARD berichtet, ist die EU hinter der Weltbank der zweitwichtigste Entwicklungspartner Kenias. Entsprechend soll Kenia als Türöffner für ähnliche Vereinbarungen mit anderen Ländern in Ostafrika fungieren.
Trotz des gebremsten Wirtschaftswachstums und der Unruhen zeigt sich etwa das Beratungsunternehmen "Rödl und Partner" ob der investorenfreundlichen Regierung Ruto dennoch zuversichtlich. "Kenia ist ein wirtschaftliches Powerhaus in Subsahara-Afrika. Mit seinen qualifizierten Arbeitskräften und seiner guten Infrastruktur bleibt das Land für internationale Investoren ein sehr attraktiver Standort", liest man auf der Webseite des Unternehmens, das nach eigenen Angaben Weltmarktführer weltweit berät.
Das Unternehmen lobt mit Blick auch auf deutsche Unternehmen, dass die Regierung bestrebt sei, Kenia für ausländische Investoren attraktiver zu machen, indem sie unvorteilhafte Vorschriften abschaffe. Darüber hinaus plant die Regierung in Nairobi laut "Rödl und Partner" mit dem neuen Finanzgesetz auch, die Mehrwertsteuer auf Dienstleistungen, die aus Kenia exportiert werden, abzuschaffen.
Kenia hat, wie viele afrikanische Staaten, mit Korruption, Vetternwirtschaft und mit kleptomanischen Familienclans zu kämpfen. "Welche Mechanismen geschaffen werden können, damit Politik nicht länger als Instrument der persönlichen, familiären und Clan-Bereicherung missbraucht wird, ist eine zentrale Aufgabe in Kenia", sagt die in Nairobi lebende Beate Schindler-Kovats.
Verwendete Quellen:
- taz.de: "Tränengas in Nairobis Armenviertel"
- ard.de:"EU und Kenia einig bei Freihandelsabkommen"
- twitter.com: Twitter Account von "Citizen TV Kenya"
- euronews.de: "Wegen Lebenshaltungskosten: Opposition in Kenia ruft zu Widerstand auf"
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