In Tirol wird die 21-jährige Larissa B. von ihrem Freund erstickt, in Wien wird ein Familienvater am helllichten Tag mit einem Schlagring krankenhausreif geprügelt und in Graz zerstückeln zwei Bankangestellte einen Kunden. Gewaltddelikte scheinen sich zu häufen. Wird Österreich brutaler? Gerichtspsychiater Reinhard Haller kennt die Antwort.

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Erst würgte er Larissa B. bis zur Bewusstlosigkeit, dann kippte er ihr Bodylotion in den Mund und stopfte einen Socken hinterher – Dominik W. tötete seine Freundin aus Eifersucht. Ein Geschworenengericht in Innbruck verurteilte den 24-Jährigen zu 20 Jahren Haft und Verwahrung in einer Anstalt für abnorme Rechtsbrecher. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen: Die Staatsanwaltschaft hat berufen.

Es hat den Anschein, als häuften sich derzeit Tötungsdelikte aus Eifersucht oder Habgier. Wird Österreich tatsächlich brutaler? Wir haben mit Gerichtspsychiater Reinhard Haller gesprochen.

Herr Haller, es hat generell den Anschein, als würden die Verbrechen in Österreich immer brutaler in letzter Zeit. Ist dem tatsächlich so?

Reinhard Haller: Grundsätzlich gehen die schweren Verbrechen, insbesondere Morde und Sexualtaten, seit Jahren eher zurück. Die scheinbare Zunahme hat mit dem großen öffentlichen Interesse an Kriminaltaten zu tun. Zugenommen haben Beziehungsdelikte, welche bereits 70 Prozent aller Tötungsdelikte in Österreich ausmachen. Da hier meist schwere Emotionen und heftige Affekte mit im Spiel sind, fallen die Taten oft sehr brutal aus.

Was geht in einem Täter wie Dominik W. zum Tatzeitpunkt vor?

Entscheidend sind wahrscheinlich heftige Kränkungserlebnisse, vor allem die Angst, nicht genügend geliebt zu werden oder etwas, was einem scheinbar zusteht, zu verlieren. In einer Zeit, in der das Wort "cool" dominiert, wird übersehen, dass der Mensch innerlich ein sehr empfindsames, kränkbares und liebesbedürftiges Wesen ist. Werden diese Ansprüche nicht erfüllt, entstehen Hass und oft tödliche Wut.

Wie hätte man im Vorfeld verhindern können, dass es so weit kommt?

Eine generelle Vorbeugung ist bei Beziehungsdelikten nicht möglich. Die Menschen müssen aber wissen, dass die größte Gefahr für Verbrechen nicht in finsteren Gassen und dunklen Wäldern, sondern innerhalb der eigenen vier Wände lauert.

Motive wie Gier und Gewinnsucht stehen weniger im Vordergrund als negative Emotionen, Narzissmus und Selbstwertgefühl. Man müsste also mit der "Erziehung zur Beziehungsfähigkeit" beginnen und in der Begegnung mit anderen Achtsamkeit und Wertschätzung in den Vordergrund rücken.

Was passiert mit den Tätern in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher?

In der Regel geht es um Psychotherapie und soziales Kompetenztraining. Psychisch abnorme Rechtsbrecher sind nicht wirklich therapiebar, weil sie an schweren Persönlichkeitsstörungen leiden.

Wohl aber können sie durch Antiaggressions- und Empathietraining lernen, mit ihrer Abnormität zurechtzukommen und sich gesellschaftlich anzupassen. Nur ein sehr kleiner Teil ist überhaupt nicht heilbar, weshalb diese Täter zum Schutz der Gesellschaft langzeitlich verwahrt werden müssen.

Man liest meist von Männern im Zusammenhang mit grausamen Verbrechen. Sind Männer wirklich brutaler?

Das Verhältnis von männlicher zu weiblicher Kriminalität liegt bei 7:1. Wegen der genetischen Veranlagung, unterschiedlichen hormonellen Einflüssen, aber auch der ganz anderen Sozialisation greifen Männer viel rascher zu kurzschlüssigen, primitiven, somit also kriminellen Verhaltensmustern.

Frauen sind eher in der Lage, Spannungen zu ertragen und Konflikte auf weniger aggressive Weise zu lösen. Auch sind Störungen wie Dissozialität oder Suchterkrankungen, die ein hohes Kriminalitätsrisiko bergen, bei Männern viel häufiger vertreten.

Kann jeder Mensch plötzlich zum Täter werden?

Jeder Mensch hat in sich einen sogenannten "Moralinstinkt". Unter bestimmten Bedingungen wird dieser übersprungen, wobei Erziehungseinflüsse, falsche Sozialisation oder Gruppendruck eine entscheidende Rolle spielen. Von großer Bedeutung ist aber die konkrete Situation, in der es zum Verbrechen kommt. So kann wahrscheinlich jeder Mensch in einer Ausnahmesituation, etwa in heftiger Erregung oder im Vollrausch, zum Täter werden.

In Graz sollen Anfang des Jahres zwei Bankangestellte einen Kunden getötet, zerstückelt, die Leichenteile in Beton gegossen und versenkt haben. Das klingt wie aus einem Mafiafilm. Gibt es einen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Brutalität und der gestiegenen Verbreitung gewaltvoller Filme?

Ein solcher Zusammenhang ist tatsächlich gegeben. Durch solche Filme wird potentiellen Tätern kriminelles "Know-how" vermittelt. Nicht zu unterschätzen ist zudem der Nachahmungseffekt, den jedes Verbrechen und jede exzessive Verbrechensdarstellung hat.

Lassen sie die Erfahrungen, die Sie durch Ihren Beruf erleben, an der Menschheit zweifeln?

Man wird zumindest vorsichtiger und ängstlicher. In jedem Menschen ist Gutes und Böses enthalten, Licht ohne Schatten ist nicht möglich. Das Böse ist der Preis, den wir für die Freiheit des menschlichen Willens bezahlen. Ich halte mich da immer an ein Wort von Friedrich Dürenmatt: "Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich, das Böse eine Tatsache, die stets vorhanden ist".

Herr Haller, danke für das Gespräch!

Reinhard Haller ist Gerichtspsychater und Autor der Bücher "Das ganz normale Böse" und "Die Narzissmusfalle". Aus seiner Erfahrung weiß er, was Menschen zu Tätern macht.
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