Gerade einmal zwei Monate ist das Urteil gegen Dominique Pelicot und rund 50 weitere Angeklagte alt, da startet in Frankreich der nächste denkwürdige Prozess. Im Zentrum: ein ehemaliger Arzt. Seine Opfer: Kinder.
299 Kinder soll Joel Le Scouarnec angegriffen oder vergewaltigt haben. So steht es in der Anklage gegen den heute 73-Jährigen, dem ab dem 24. Februar in Vannes in der Bretagne der Prozess gemacht wird.
Es ist der wohl größte Fall von Kindesmissbrauch in der französischen Geschichte. Jahrzehntelang soll sich der ehemalige Chirurg an seinen jungen Opfern vergangen haben. Die meisten von ihnen standen während der Angriffe unter Narkose, erfuhren von dem Missbrauch erst Jahre später von der Polizei, die ihre Namen in Tagebüchern des Verdächtigen gefunden hatte.
Einige Anklagepunkte hat Le Scouarnec gestanden, jedoch beileibe nicht alle. Mehr als 100 Anklagen wegen Vergewaltigung und etwa 150 Anklagen wegen sexueller Nötigung laufen gegen den Mann aus der Bretagne. Konkret geht es um Fälle, die sich zwischen den Jahren 1989 und 2014, vorwiegend in Krankenhäusern in Westfrankreich, ereignet haben sollen.
Nicht der erste Prozess gegen Joel Le Scouarnec
Es ist nicht das erste Mal, dass Joel Le Scouarnec vor Gericht steht. 2017 wurde er in vier Fällen der Vergewaltigung beziehungsweise sexueller Übergriffe verdächtigt. Betroffen waren zwei seiner Nichten, eine ehemalige Patientin sowie seine sechsjährige Nachbarin.
2020 wurde ihm unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Prozess gemacht. Das Urteil lautete 15 Jahre Haft und wurde in einem Berufungsprozess bestätigt. Seit 2017 sitzt Le Scouarnec in Haft.
Nach seiner Festnahme fanden Ermittler in seinem Haus Sexpuppen in der Größe von Kindern sowie mehr als 300.000 Fotos, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder zeigten. Zudem entdeckte die Polizei Tausende Seiten lange Tagebücher, in denen Le Scouarnec mutmaßlich die Übergriffe auf seine jungen Patienten detailliert festgehalten hat.
Le Scouarnec wehrte sich gegen die Vorwürfe, behauptete, seine Tagebücher würden "lediglich Fantasien" beschreiben. Französischen Medienberichten zufolge schrieb er darin jedoch auch mehrfach: "Ich bin pädophil."
Mitglieder seiner eigenen Familie sollen von seiner Neigung gewusst, es jedoch versäumt haben, ihn zu stoppen. "Es war die Omertà der Familie, die dazu führte, dass der Missbrauch jahrzehntelang fortgeführt werden konnte", sagte ein mit dem Fall betrauter Anwalt der BBC. Omertà meint ursprünglich das Gesetz des Schweigens der italienischen Mafia.
FBI warnte schon vor 25 Jahren vor Le Scouarnec
Im Zentrum des Prozesses wird auch die Frage stehen, inwiefern Le Scouarnec nicht nur von der Familie, sondern auch von Kollegen und Chefs gedeckt wurde. Schließlich hatte das FBI französische Behörden schon Anfang der 2000er-Jahre vor Le Scouarnec gewarnt.
Der Chirurg hatte auf Websites zugegriffen, die Bilder sexualisierter Gewalt gegen Kinder zeigten. Er wurde damals lediglich zu einer viermonatigen Bewährungsstrafe verurteilt, musste sich weder medizinisch untersuchen lassen, noch sich in psychologische Behandlung begeben.
Frederic Benoist, der die Kinderschutzorganisation La Voix de l'Enfant anwaltlich vertritt, sagte der BBC: "Ein hohes Maß an Dysfunktionalität hat es Le Scouarnec ermöglicht, seine Taten zu begehen." Seine Organisation wolle auf die "entscheidenden institutionellen und gerichtlichen Fehltritte" hinweisen, die in dem Fall passiert seien.
Benoist zufolge gab die französische Staatsanwaltschaft die Informationen des FBI nie an die Gesundheitsbehörden weiter, weshalb Le Scouarnec weiter als Chirurg arbeiten und Kinder behandeln konnte.
Ein Kollege hegte 2006 einen Verdacht und forderte die regionale Ärztekammer auf, den Fall unter die Lupe zu nehmen. Ein Arzt enthielt sich seiner Stimme, der Rest stimmte dafür, dass Le Scouarnec nicht gegen den ärztlichen Ehrenkodex verstoßen habe.
"Wir haben also Beweise dafür, dass alle diese Kollegen davon wussten und keiner von ihnen etwas unternommen hat", sagte Benoist der BBC. "Es gab viele Umstände, die dazu führten, dass er hätte gestoppt werden können; er wurde nicht gestoppt, und die Folgen sind tragisch."
Übergriffe erfolgten meist unter Narkose – viele Opfer erinnerten sich erst spät
Einige der Taten, derer Le Scouarnec verdächtigt wird, sind bereits verjährt. Auch deshalb, weil sich viele seiner Opfer nicht an sie erinnerten.
Die meisten der Übergriffe sollen erfolgt sein, als sich die Kinder unter Narkose befanden. Zahlreiche Opfer erfuhren erst durch die Polizei von den mutmaßlichen Attacken, weil ihre Namen in Le Scouarnecs Tagebüchern aufgetaucht waren.
Einige der Betroffenen litten jahrelang unter Flashbacks, die sie sich nicht erklären konnten. Olivia Mons von der Opferhilfsorganisation "France Victimes" sagte der BBC, viele der Personen, mit denen sie gesprochen habe, hätten nur verschwommene Erinnerungen an die Taten. Als Le Scouarnec gefasst wurde, "war das für sie der Anfang einer Erklärung".
Viele der mutmaßlichen Opfer hätten ein normales Leben geführt, bis sie von der Polizei kontaktiert wurden, sagte Mons. "Heute sind viele dieser Menschen verständlicherweise sehr erschüttert."
Anwältin Francesca Satta vertritt mehrere der Opfer. Unter ihnen seien "die Familien von zwei Männern, die sich erinnert und schließlich das Leben genommen haben". Ihre Kollegin Margaux Castex sagte der BBC, ihr Mandant sei völlig traumatisiert. "Er wünschte, er hätte nie erfahren, was passiert ist."
Mutmaßliches Opfer macht Grausamkeit der Taten deutlich
Eine heute 38-jährige Frau namens Marie, verheiratet und dreifache Mutter, gab "France Bleu" bereits 2019 ein Interview, in dem sie die grausige Absurdität des Falls schilderte. Sie habe jahrelang Probleme mit ihrer Sexualität gehabt, aber nicht gewusst, warum. Ihre Ärzte hätten sich gefragt, ob sie ein Kindheitstrauma erlebt habe.
Eines Tages habe dann die Polizei vor ihrer Tür gestanden. Ihr Name war in Le Scouarnecs Tagebuch aufgetaucht. Er soll sie im Alter von zehn Jahren nach einer Blinddarmoperation vergewaltigt haben.
"Sie lasen vor, was er über mich geschrieben hatte. Ich wollte es selbst lesen, aber das war unmöglich", sagte Marie dem Portal. "Stellen Sie sich vor, Sie lesen Hardcore-Pornografie und wissen, dass es um Sie geht."
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Ihr Gedächtnis habe sie geschützt, sagte Marie 2019. "Bei der Anhörung kam alles wieder hoch. Die Bilder, die Empfindungen, die Erinnerungen kommen Tag für Tag zurück. Heute erlebe ich es, als wäre es gerade erst geschehen."
Anfang Oktober 2024, als sich der Prozess gegen Le Scouarnec abzeichnete, sprach Marie noch einmal mit "France Bleu". Damals sagte sie, ihre Wut sei mittlerweile abgeklungen, viele andere Emotionen jedoch immer noch da. Vor dem Prozess fürchte sie sich, auch vor den Bildern, die er erneut heraufbeschwören könnte. "Ich weiß nicht, wie es mir am Tag der Verhandlung gehen wird."
Le Scouarnec droht die Höchststrafe
In dem nun startenden Prozess drohen dem ehemaligen Arzt 20 Jahre Haft, in Frankreich die Höchststrafe für schwere Vergewaltigung. Ein Urteil wird im Juni erwartet. Ob auch dieses Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird, ist noch unklar. Für einen öffentlichen Prozess müssten alle mutmaßlichen Opfer zustimmen.
Der Fall erinnert an den Ende Dezember verurteilten Dominique Pelicot. Er betäubte seine heutige Ex-Frau Gisèle über ein Jahrzehnt hinweg immer wieder, bot sie anderen Männern zur Vergewaltigung an und filmte die Taten. Gisèle Pelicot erfuhr erst durch die Ermittlungen der Polizei von den Verbrechen. Sie nutzte den Prozess, um Opfern sexualisierter Gewalt bewusst ein Gesicht zu geben und sie zu entstigmatisieren.
Verwendete Quellen
- Le Parisien: Procès en vue pour Joël Le Scouarnec, le pédocriminel aux 300 victimes
- France TV Info: Pédophile assumé, comment le chirurgien Joël Le Scouarnec a-t-il pu passer sous les radars pendant trente ans?
- BBC: France prepares for trial of surgeon accused of abusing anaesthetised children
- France Bleu: Marie, victime présumée du chirurgien soupçonné de pédophilie : "Je me souviens de son regard glaçant"
- France Bleu: Affaire Le Scouarnec : "J'appréhende le procès", témoigne l'une des victimes présumées du chirurgien pédophile à Vannes
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