Wie konnte das passieren, wie nah war er dran an der Freiheit und wieso erfuhren wir erst jetzt davon? Der Fluchtversuch des Halle-Attentäters Stephan B. wirft viele Fragen auf. Wenigstens einige konnte Sachsen-Anhalts Regierung am Donnerstag beantworten.
Etwa fünf Minuten lang wusste am Samstag niemand, wo sich der vielleicht gefährlichste Mann Sachsen-Anhalts aufhält. Der Rechtsextremist Stephan B., der im Oktober einen Anschlag auf eine Synagoge in Halle verübte und anschließend zwei Menschen ermordete, hatte sich der Kontrolle seiner Bewacher entzogen. Ein Skandal, der auch am Tag nach dem Bekanntwerden für Kopfschütteln und Fassungslosigkeit sorgt. Wie konnte das bei dem Mann, dem in gut einem Monat vor den Augen der Weltöffentlichkeit der Prozess gemacht werden soll, passieren?
B. steht nach Angaben des Magdeburger Justizministeriums seit seiner Gefangennahme im Oktober untere strenger Bewachung. Das Ministerium habe angeordnet, dass er immer, wenn er seine kameraüberwachte Zelle verlässt, von mindestens zwei Justizbeamten bewacht wird. Das geschah laut Ministerium zunächst auch am Samstagnachmittag. Vorschriftsgemäß holten ihn zwei Justizvollzugsbeamte aus seiner Zelle ab, um B. zur Freistunde in den Innenhof zu bringen. Anders als seine Mitgefangenen darf er dabei keine anderen Häftlinge treffen.
Halle-Attentäter konnte unbeobachtet über Zaun klettern
In der JVA Halle, dem Roten Ochsen, hatte B. deshalb einen eigenen, eingezäunten Bereich im Innenhof, in dem er täglich an die frische Luft durfte. Dorthin brachten ihn seine Bewacher. Anders als vorgeschrieben bewachten sie den Attentäter dann aber nicht weiter. Warum nicht, war nach Angaben des Ministeriums am Donnerstag noch unklar. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur kam es im Roten Ochsen zeitgleich zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein internes Kommunikationssystem fiel demnach aus, außerdem gab es einen medizinischen Notfall mit einem anderen Häftling, der daraufhin ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Das Justizministerium bestätigte beide Vorfälle. Ob sie was mit dem Fluchtversuch zu tun hatten, lasse sich bisher aber nicht sagen. B. nutzte den Moment, wie auch immer er zustande kam, um über den gut 3,40 Meter hohen Zaun seines Freiganggeländes zu klettern und über den Innenhof in einen Transportraum, in dem normalerweise Gefangenentransporte zusammengestellt werden, zu flüchten.
Auf dem Weg dorthin versuchte er, einen Gullydeckel anzuheben, in dem Gebäude probierte er, durch mehrere Türen zu kommen - beides vergeblich. Derweil fiel seine Abwesenheit anderen Justizvollzugsbeamten auf. Während sie den Vorfall meldeten, kam B. unverrichteter Dinge aus dem Transportraum zurück in den Innenhof, wo ihn Wächter ohne Gegenwehr wieder in Gewahrsam nahmen.
Gefängnisleitung erfuhr zufällig von dem Vorfall
Die beteiligten Beamten meldeten den Vorfall zunächst jedoch nicht. Die Gefängnisleitung, teilte das Justizministerium nach einer Besprechung mit, habe erst am Dienstag zufällig von dem Vorfall erfahren und dann sofort das Ministerium informiert. Daraufhin ließ Ministerin Anne-Marie Keding die beteiligten Beamten in einen anderen Gefängnistrakt versetzen und B. am Mittwoch in das Hochsicherheitsgefängnis nach Burg bei Magdeburg verlegen. Dann machte die CDU-Politikerin die Sache öffentlich.
Befremdet reagierte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, die B. im Oktober vergangenen Jahres angegriffen hatte. "Das ist unfassbar, dass er es fast geschafft hat", sagte der Vorsitzende der Gemeinde, Max Privorozki, am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. "Mir fehlen die Worte." Es sei kaum vorstellbar, was alles hätte passieren können, wenn er es geschafft hätte.
Unterbringungsort sorgt für Diskussionen
Immerhin steht der Rote Ochse nicht abgelegen am Stadtrand, sondern mitten in Halle in einer dicht besiedelten Wohngegend. Schon seit 180 Jahren werden im Roten Ochsen Gefangene bewacht. Die Nazis richteten hier politische Gefangene hin, die Sowjets nutzten den Komplex als Schauplatz von Tribunalen, die Stasi zur Unterbringung von weiblichen Gefangenen und Untersuchungshäftlingen.
Auch wegen dieser langen Historie kam kurz nach Bekanntwerden des Fluchtversuchs die Frage auf, weshalb B. überhaupt in der uralten Anlage untergebracht wurde und nicht in Burg. Mario Pinkert, Landesvorsitzender der Justizgewerkschaft BDSD, kennt beide Anlagen und hält die modernere Anstalt in Burg für deutlich besser geeignet. Das Ministerium sprach von einem normalen Vorgang. Halle sei Tatort und auch zunächst als Ort der Verhandlung im Gespräch gewesen. (fra/dpa)
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