Zehn Jahre ist es nun her, dass Paul Schäfer im Gefängnis gestorben ist. Trotzdem sollte man nie vergessen, welch scheußliche Taten der deutsche Sektenführer begangen hat. Wir blicken zurück.

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Paul Schäfer - Der evangelische Laienprediger

Paul Schäfer, geboren 1921 in Bonn, war evangelischer Laienprediger und baute in den 50er Jahren eine Gemeinschaft auf, zunächst in Gartow an der Elbe, dann in Heide bei Siegburg. Die Gemeinschaft versprach ein gottesfürchtiges, von Wohltätigkeit geprägtes Leben. Damit erreichte Schäfer im Nachkriegsdeutschland viele Menschen, die sich nach Hoffnung und Frieden sehnten. Nachdem Schäfer in Deutschland wegen Kindesmissbrauchs gesucht worden war, tauchte er unter und floh nach Chile. Viele seiner Anhänger folgten ihm.

Gründung von Colonia Dignidad 1961

In Chile gründete Paul Schäfer 1961 die "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad", zu Deutsch "Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde" - oder kurz: "Colonia Dignidad", übersetzt "Kolonie (der) Würde". Das etwa 30 Quadratkilometer große Areal liegt 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile am Fuße der Anden. Durchschnittlich lebten dort etwa 300 Menschen.

Der Name erscheint mehr als zynisch, handelte es sich doch um eine totalitäre Sektengemeinschaft, die sich durch eine Schreckensherrschaft mit ständigem Psychoterror auszeichnete. Die Bewohner wurden wie Sklaven gehalten, mussten unter Androhung von Strafe ohne Lohn Schwerstarbeit leisten, wurden ständig überwacht und teilweise auch gefoltert. Jahrelang missbrauchte Schäfer Kinder, in der Regel Jungen, zunächst deutsche, später zunehmend auch chilenische Kinder.

Das sozial ausgerichtete Musterdorf

Vordergründig stand die Sekte für Frömmigkeit und Nächstenliebe, Dienst an Gott und den Armen und deutsche Folklore. Bei offiziellen Anlässen präsentierten sich die Bewohner in Lederhosen und Dirndl, die Veranstaltungen wurden von Musikdarbietungen der Kinder untermalt, die alle ein Instrument lernen musste.

Die Siedlung lag inmitten unberührter Natur, es entstand ein deutsches Musterdorf mit Werkstätten, Landwirtschaft, Viehzucht, einem Internat für chilenische Kinder und einem Krankenhaus für die chilenische Bevölkerung. Aus der eigenen Produktion wurde die chilenische Bevölkerung mit günstigem Brot und Milchprodukten versorgt, wodurch die deutsche Kolonie an Ansehen gewann und vom chilenischen Staat sogar als gemeinnützig anerkannt wurde.

Die Wahrheit hinter dem Stacheldraht

Familien wurden getrennt und zerstört, Kinder wurden den Eltern weggenommen. Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen mussten jeweils in getrennten Gruppen leben. Kinder wurden von Schäfer und anderen führenden Sektenmitgliedern körperlich gezüchtigt und Jungen sexuell missbraucht.

Widerstand wurde im Keim erstickt, nicht selten durch Gewalt und Folter. Es kam Schäfer zugute, dass die Siedlung weit abgelegen und von der Außenwelt abgeschottet war, das machte eine Flucht schwierig. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt, das Tor zur Siedlung wurde bewacht.

Die Rolle Chiles

Schäfer unterhielt offenbar Kontakte zu rechtsextremen chilenischen Gruppen. 1973 unterstützte er den Militärputsch, indem er Waffen aus Deutschland organisierte. Während der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet wurden Regimekritiker und politische Gegner auf dem Gelände der Colonia Dignidad vom chilenischen Geheimdienst gefoltert und ermordet. Da Pinochet von Schäfer profitierte, schaute die chilenische Polizei und Politik lange Zeit zu, obgleich Schäfer zunehmend auch chilenische Kinder entführte und missbrauchte, und viele Eltern von verschwundenen Kindern Anklage erhoben.

Die Rolle Deutschlands

Auch Deutschland erkannte das Ausmaß nicht oder sah weg. Wenn einem Sektenmitglied tatsächlich die Flucht gelang, wurde dieses bis 1985 sogar von der Deutschen Botschaft wieder zurück in die Kolonie geschickt.

Die Kolonie entwickelte sich zu einem enormen Wirtschaftsunternehmen. Schäfer hatte Kontakte zu deutschen Politikern und Diplomaten, 1977 besuchte Franz Josef Strauß die Siedlung. Auch andere Politiker unterhielten Kontakt zu Schäfer, obwohl er sich in Deutschland einer Verhaftung wegen Kindesmissbrauchs entzogen hatte.

Das Ende der unrühmlichen Kolonie 1997

Seit 1977 berichteten Amnesty International und die UNO immer wieder über die Kolonie. In den 90er Jahren erging endlich ein Haftbefehl gegen Paul Schäfer, nachdem missbrauchte chilenische Kinder ihre Missbrauchsvorwürfe dokumentieren konnten. Schäfer und seine Führungsriege konnten jedoch rechtzeitig fliehen - vermutlich wurden sie vorgewarnt.

Strafrechtliche Verfolgung der Täter

2004 wurde Schäfer in Chile wegen Misshandlung und mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und illegalen Waffenhandels in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt. 2005 konnte er in Argentinien festgenommen werden. Wegen Steuerhinterziehung, Zollbetrug, Entführung, Zwangsadoption und Verstößen gegen das Arbeitsgesetz wurde er zu weiteren 13 Jahren Haft verurteilt. Im Alter von 88 Jahren starb er am 24. April 2010 im Gefängnishospital in Chile.

Gisela Seewald, die Leiterin der Klinik der Colonia Dignidad, wurde 2005 verhaftet. Sie gestand, dass Kinder mit Elektroschocks und psychischen Behandlungen gefügig gemacht wurden. Im Laufe der folgenden Jahre wurden weitere Sektenmitglieder und Helfer Schäfers angeklagt, konnten aber nicht verurteilt werden, da sich viele Zeugen plötzlich zurückzogen. 2011 schließlich wurden 26 ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Das Leben der Opfer nach Colonia Dignidad

Viele der Bewohner sind nach Deutschland zurückgekehrt. Da sie keine Schule besucht und weder Schulabschluss noch Berufsausbildung haben, ist es für sie kaum möglich, Arbeit zu finden. Vielen bleibt nur Hartz IV, außerdem droht Altersarmut.

Nach wie vor leben etwa 120 Menschen auf dem Gelände, das in "Villa Baviera", also "Bayerisches Dorf" umbenannt wurde. Sie haben 2012 ein Hotel mit Restaurant eröffnet, das bayerische Lebensart vermitteln soll: traditionelle bayerische Küche, Veranstaltungen wie das Oktoberfest und ähnliches. Sogar Hochzeiten können dort stattfinden. Es ist eine Art Zweckgemeinschaft und die Tourismusidee ist sicher nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Not geboren.

Entschädigungen für die Opfer

Zehn Jahre nach dem Tod von Schäfer erhielten nun 20 Opfer der Sekte bis zu 10.000 Euro. Bis Ende 2020 sollen alle der etwa 200 Opfer entschädigt sein. Das sei, so sagte der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Brand, der Nachrichtenagentur dpa, sowohl eine symbolische Geste an die Opfer wie auch die Voraussetzung für die zukünftige Betreuung von Opfern im Bereich Pflege und Alter.

Verwendete Quellen:

  • planet-wissen.de: Marika Liebsch: Colonia Dignidad - Deutsche Siedlung in Chile, Planet Wissen.de
  • Kirche + Leben Netz: Karin Weglage: Ehepaar aus Ahaus überlebte die "Hölle" der Colonia Dignidad
  • spiegel.de: Christoph Gunkel: Colonia Dignidad heute - "Da muss ein Museum rein oder der Bulldozer!"
  • Zeit.de: Erste Opfer der Colonia Dignidad erhalten Geld aus Deutschland


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