- Die Situation erinnert an die Anfänge des Corona-Zeitalters in der Weltgeschichte: Voller Sorge und Zukunftsangst geht der Blick nach China.
- Dort verteidigt der Staatspräsident die Politik der Null-Toleranz.
- Diese aber reißt die globale Wirtschaft in einen gefährlichen Strudel.
Bei Volkswagen, Audi, BMW und Tesla in China stehen Werke still. Zig Millionen Menschen dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen. Der Corona-Lockdown in Shanghai bremst den Umschlag im größten Hafen der Welt. Schon die Lastwagen fehlen. Der Frachtverkehr im größten Produktionsland der Erde geht spürbar zurück. "Wenn China einen Schluckauf bekommt, haben wir alle eine schwere Erkältung anderswo in der Welt der Lieferketten", warnt der Vorsitzende der Europäischen Handelskammer in China, Jörg Wuttke.
China trage zu einem Viertel des globalen Wachstums bei. Jedes Produkt habe "etwas von China" in sich. "Wenn Chinas Lieferketten einen Schlag abbekommen, wirkt sich das sicher auf Verfügbarkeit, Preise, Auswahl und so weiter aus", sagt Wuttke. "China ist wichtig." Er fürchtet, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft jetzt mit ihrer schlimmsten Corona-Welle seit Pandemie-Beginn vor zwei Jahren zurückfällt, während der Rest der Welt zur Normalität aufbricht.
Null COVID: Xi Jinping verteidigt den Weg im Kampf gegen Corona
Von dieser Normalität ist in China keine Spur. Angesichts steigender Fallzahlen und wachsender Verärgerung in der Bevölkerung hat Staatschef
"Ausländische Sportler haben uns gesagt, wenn es eine Goldmedaille für Epidemie-Bekämpfung gäbe, würde China sie bekommen", fügte Xi hinzu. Die staatliche "Volkszeitung" schrieb am Freitag, die Null-COVID-Strategie sei weiterhin "die beste Wahl" für China und das Land solle "niemals abgestumpft, niemals müde im Kampf" gegen die Corona-Pandemie werden.
Seit dem traumatischen Ausbruch in Wuhan in Zentralchina, wo Ende 2019 die ersten Infektionen entdeckt wurden, verfolgt China recht erfolgreich seine strikte Null-COVID-Strategie. Mit Ausgangssperren, Massentests, Kontaktverfolgung und Zwangsquarantäne konnte das Virus eingefangen werden, sodass Alltag und Wirtschaft normal liefen. Aber mit der Ankunft von Omikron und der sich schnell verbreitenden BA.2-Variante wird die "Null-Toleranz" auf eine harte Probe gestellt.
Kritik an verloren gegangener Wirksamkeit der Corona-Waffen
"Shanghai bekämpft einen neuen COVID-Feind mit alten Waffen", titelt das renommierte chinesische Wirtschaftsmagazin "Caixin". Die Maßnahmen hätten ihre Wirksamkeit verloren. Tag für Tag werden höhere Zahlen an Neuinfektionen gemeldet - die meisten zudem asymptomatisch. Jeder Infizierte muss in China in Quarantäne. Zehntausende Feldbetten werden in Messehallen aufgebaut, die gar nicht groß genug sein können. Die wochenlangen Ausgangssperren in Shanghai oder im Nordosten in Shenyang oder der Provinz Jilin sind auf unbestimmte Zeit verlängert, ohne dass die Fälle im Land bisher zurückgehen.
In den vergangenen Wochen wurden in der Volksrepublik täglich tausende Corona-Neuinfektionen nachgewiesen. Am stärksten betroffen ist die Wirtschaftsmetropole Shanghai, die am Freitag mehr als 21.000 Neuinfektionen meldete. In der Stadt gilt bereits seit Ende März ein Lockdown.
Die Stadtverwaltung teilte am Freitag mit, dass in Übergangsunterkünften wie Messehallen 130.000 Betten für Corona-Infizierte zur Verfügung stünden oder noch bereitgestellt würden. Aus dem ganzen Land wurden 38.000 medizinische Fachkräfte sowie 2.000 Soldaten nach Shanghai entsandt.
Panikkäufe in Shanghai, Trennung von Babys und ihren Eltern
Shanghai war im Kampf gegen die Corona-Ausbreitung schrittweise abgeriegelt worden. Dies führte in der 26-Millionen-Metropole zu Panikkäufen. Zudem löste die Trennung positiv getesteter Babys von ihren Eltern unter Familien Angst und Schrecken aus. In der Bevölkerung wächst der Unmut über die Corona-Restriktionen, was sich vor allem in Äußerungen in Online-Netzwerken zeigt.
China steckt in einem Dilemma: Dem Milliardenvolk fehlt es an natürlicher Immunität, da es bisher kaum Erkrankungen gegeben hat. Die chinesischen Impfstoffe gelten als nicht so wirksam wie die westlichen Vakzine, die aber in China immer noch nicht zugelassen sind. Zwar ist die Impfrate im internationalen Vergleich hoch, aber Millionen älterer Chinesen sind nicht oder unzureichend geimpft.
Shanghai gleicht einer Geisterstadt. Zwar wird beteuert, der Hafenbetrieb laufe "normal", aber Unternehmen schätzen den Rückgang des Umschlags auf 40 Prozent. Auch wenn der benachbarte Hafen in Ningbo einen Teil auffängt, dürften es noch minus 15 bis 20 Prozent sein. Das Nadelöhr ist vor allem an Land: Lastwagenfahrer wollen nicht nach Shanghai fahren. Sie brauchen Genehmigungen, müssen Corona-Tests machen und fürchten Quarantäne bei der Rückkehr.
Viele deutsche Unternehmen können aus China nicht mehr exportieren
Landesweit gibt es Transportprobleme. "Die Versorgung über Provinzgrenzen hinweg ist sehr schwierig", berichtet Christoph Schrempp von der EU-Kammervertretung in Tianjin. "Lastwagen werden nicht reingelassen oder Fahrer müssen gewechselt werden." Der tägliche Firmenbetrieb werde "im wesentlichen unplanbar und unvorhersehbar". 40 Prozent der deutschen Unternehmen in China berichten, dass ihre Beschaffungsketten unterbrochen oder schwer gestört sind. Der Exportweg nach Europa ist für ein Drittel stark betroffen oder ganz abgerissen. Auch 86 Prozent der amerikanischen Hersteller in China berichten von Störungen ihrer Zulieferketten.
Wegen des Lockdowns fehlt es auch an Bodenpersonal für Shanghais Flughäfen Pudong und Hongqiao, die nur noch begrenzt Fracht abwickeln. Ohnehin gibt es immer weniger internationale Flüge. Seit zwei Jahren hat sich China vom Ausland abgeschottet. Wer es trotzdem ins Land schafft, muss drei Wochen in Quarantäne. Umgekehrt hat ein Exodus eingesetzt: Die Zahl der ausländischen Managerinnen und Experten hat sich nach groben Schätzungen bis vergangenen Sommer schon halbiert - und dürfte sich bis diesen Sommer noch einmal halbieren.
Klaus Zenkel: "Die Null-COVID-Politik würgt uns die Luft ab"
Die Null-COVID-Politik "hat uns in der Vergangenheit sicher gehalten", räumt der für Südchina zuständige EU-Wirtschaftsvertreter Klaus Zenkel ein. "Die gleiche Politik würgt uns jetzt die Luft ab." Doch ein Strategiewechsel ist nicht in Sicht. Die Kosten wären auch hoch: Wollte China plötzlich wie andere Länder "mit dem Virus leben", würde das unterentwickelte Gesundheitssystem zusammenbrechen. Es müsste mit Zehntausenden oder Hunderttausenden Toten gerechnet werden, je nach Schätzung. Chinesische Expertinnen und Experten warnen vor einer "Katastrophe" und einer "teuflischen Situation".
"Chinas Festhalten an seiner bisherigen COVID-Strategie hat auch mit dem politischen Narrativ der chinesischen Führung zu tun, die Pandemie besser als andere Länder zu meistern", sagt Max Zenglein vom China-Institut Merics in Berlin. Deswegen rechnen Beobachter nicht so schnell mit einer Kehrtwende. Erst recht nicht vor dem Parteitag im Herbst, auf dem sich Jinping für eine dritte Amtszeit oder auch länger bestätigen lassen will.
Es geht der Partei bei der Frage zwischen "Koexistenz mit dem Virus" und Chinas Weg der "dynamischen Säuberung" auch um sehr viel mehr: "Die Wahl ist an der Oberfläche ein Wettbewerb der Ideen, Strategien und Methoden im Kampf gegen die Pandemie", schreibt das Parteiblatt "Shenzhen Tequbao". "Aber in Wirklichkeit ist es eine Schlacht zwischen Systemen, nationaler Stärke, Regierungsfähigkeit und selbst zwischen Zivilisationen." (dpa/AFP/hau)
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