Vor einem Vierteljahrhundert sank die "Estonia" auf ihrem Weg über die Ostsee. 852 Menschen kamen ums Leben. Vor allem die staatliche Reaktion auf das schwerste Schiffsunglück in Europa nach dem Krieg löst bei Überlebenden und Angehörigen noch heute Kopfschütteln aus.
Für Anders Eriksson sind die Erinnerungen an die schreckliche Nacht auf der Ostseefähre "Estonia" auch nach 25 Jahren nicht verblichen. Der Arbeitskollege mit den beiden Tickets für die Fahrt, das Sightseeing in Tallinn vor der Rückreise nach Stockholm. Die beiden plötzlichen lauten Knalle auf der Fähre nach Mitternacht. Die dramatischen Minuten, in der sich die "Estonia" immer mehr zur Seite neigte. Der Sprung ins Wasser und das stundenlange Ausharren auf See, während das Schiff bereits gen Meeresgrund sank. Dann die Rettung per Hubschrauber. "Ich kann mich noch ziemlich gut an diesen ganzen Vorfall erinnern. Das sitzt schließlich ziemlich tief."
Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang kann der 70 Jahre alte Schwede eine Geschichte erzählen, die einem trotz der zeitlichen Distanz noch immer Tränen in die Augen treibt. Er und sein Kollege waren 2 von 989 Menschen, die am Vorabend des 28. Septembers 1994 mit der "Estonia" in Tallinn (Estland) mit Kurs auf Stockholm in See stachen. Doch in Schweden kamen sie niemals an: In der Nacht drang auf halber Strecke plötzlich Wasser in das Schiff ein. Wie genau es dazu kam, darüber wird seit Jahren gestritten. Bei Sturm und aufgewühlter See bekam die "Estonia" Schlagseite und sank schließlich innerhalb von nur knapp einer Stunde - und mit ihr Hunderte Menschen.
Größtes Schiffsunglück der Nachkriegsgeschichte
Für die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder kam jede Hilfe zu spät. 852 Menschen starben bei dem größten Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte, darunter mehr als 500 Schweden und fünf Deutsche. Nur von 94 Toten wurden die Leichen geborgen, mehr als 750 Opfer liegen bis heute mit dem Schiffswrack vor der Südküste Finnlands auf dem Grund der Ostsee. Aus der Fähre ist ein Massengrab geworden. Nur 137 Menschen überlebten, unter ihnen Eriksson.
"Um kurz nach zwölf gab es zwei sehr kräftige Knalle, die sich sehr metallisch angehört haben. Ich wäre fast aus dem Bett gefallen", so Eriksson. Als er hektisch in Hemd, Hose und Schuhe schlüpfte und aus der Kabine eilte, nahm das Unglück schon seinen Lauf: Die "Estonia" bekam Schlagseite und kippte nach Steuerbord. "Das waren zunächst 25, 30 Grad. Da habe ich gemerkt: Ich muss hier raus." Bei einer Neigung von 90 Grad führte der Weg nur noch in eine Richtung: "Dann gab es keinen Ausweg mehr für mich, als ins Wasser zu springen." Im kalten Meer klammerte er sich im Dunkeln an eine umgekippte Rettungsinsel.
Sechs Stunden später holte ihn ein Retter aus den Fluten der Ostsee. Noch heute hält Eriksson Kontakt zu ihm, auch anlässlich des 25. Jahrestags werden sich die beiden treffen. Am Samstag wird auf einer großen Zeremonie in Stockholm der Opfer der Katastrophe gedacht. Kronprinzessin Victoria und ihr Mann Daniel sowie Ministerpräsident Stefan Löfven werden erwartet, später gibt es einen Gottesdienst.
Abgeschlossen haben die Überlebenden und Hinterbliebenen bis heute nicht. "Die wichtigste Frage ist: Warum ist sie gesunken?", fragt sich Lennart Berglund von der Opfer- und Angehörigenstiftung SEA, der bei dem Untergang seine Schwiegereltern verloren hat, "die Großeltern meiner Kinder", wie er sie bezeichnet. Die Trauer der ersten Jahre sei mittlerweile etwas anderem gewichen, das mit der Reaktion der Behörden zusammenhänge. "Heute ist es mehr Wut und Enttäuschung."
"Die Untersuchung ist Schrott"
Experten aus Estland, Finnland und Schweden machten 1997 in einem vielfach kritisierten Untersuchungsbericht ein falsch konstruiertes Bugvisier und seemännische Fehler der Besatzung als wichtigste Ursachen dafür aus, dass die 1980 vom Stapel der Papenburger Meyer Werft gelaufene Fähre so schnell sinken konnte. Unstrittig ist, dass die Bugklappe sich auf offener See öffnete und abriss - die Klappe war das einzige Schiffsteil, das nach dem Untergang geborgen wurde. Unmengen von Wasser strömten darauf schnell und ungehindert ins Autodeck. Damit hören die Klarheiten aber bereits auf.
"Die Untersuchung ist Schrott", sagt Jutta Rabe. Die Journalistin recherchiert seit 25 Jahren und hat ein Buch mit neuen Erkenntnissen veröffentlicht. Sie ist überzeugt: Die Auto- und Passagierfähre kann nicht auf die im Untersuchungsbericht beschriebene Weise gesunken sein. Dagegen sprächen einfache physikalische Gesetze und der Fakt, dass unter dem Autodeck noch weitere Decks lagen. "Bei einem Wassereinbruch über das Autodeck hätten die Wassermassen erst die drei unterhalb des Autodecks liegenden Stockwerke fluten und die Luft verdrängen müssen, um das Schiff zu versenken."
Überlebende von diesen unteren Decks hätten einen anderen Hergang beschrieben, sagt Rabe: Das Wasser sei von unten gekommen. Es bleibe damit nur eine Schlussfolgerung: eine Beschädigung der "Estonia" unterhalb der Wasserlinie. Riss eine Explosion ein Loch in den Bug? Diese Theorie erhielt neues Futter, als eine Untersuchung im Auftrag der schwedischen Regierung zwei militärische Geheimtransporte auf der "Estonia" zumindest einige Tage vor der Katastrophe bestätigte. Opferverbände wollen deshalb wissen, ob der Schiffsrumpf noch intakt ist oder sich ein Loch darin befindet. Sie setzen dabei auf ein neues Verfahren in Estland, fordern eine neue internationale Untersuchung.
Scharfe Kritik von den Betroffenen
Für die Betroffenen bleiben somit 25 Jahre nach der Katastrophe weiterhin große Fragezeichen. "Ich weiß immer noch nicht, warum die "Estonia" gesunken ist", sagt Eriksson. Es sei sehr beschämend, wie Schweden das Ganze damals gehandhabt habe. "Die Havariekommission hat niemals mit uns Überlebenden gesprochen. Es gab Versprechungen, dass jedes Opfer nach Hause gebracht wird. Aber nichts ist passiert." Wrack und Leichen wurden - trotz anderslautender Versprechungen der schwedischen Regierung - nie geborgen. Stattdessen wurde die Fähre per Gesetz zur Grabstätte für die verbliebenen Opfer erklärt.
Eine Entschädigungsforderung von mehr als 1000 Überlebenden und Angehörigen gegen die französische Prüfungsstelle Bureau Veritas und die Meyer Werft wurde Mitte Juli in Frankreich abgewiesen. Die Kläger konnten nach Auffassung des Gerichts in Nanterre kein grobes oder vorsätzliches Fehlverhalten der Prüfer und der Werft nachweisen.
An den Forderungen nach Antworten zur Katastrophe hat das nichts geändert. Diejenigen, die den Untergang überlebt oder Angehörige dabei verloren haben, wollen endgültige Klarheit, was passiert ist - und glauben letztlich daran, dass diese eines Tages kommen wird. Der 68-jährige Berglund sagt, die Antworten würden eines Tages schon kommen - ob er dann noch lebe, wisse er nicht. Und Eriksson, dessen Arbeitskollege die Tragödie wie 851 weitere Menschen nicht überlebte, hofft, dass irgendein Beteiligter am Ende reinen Tisch machen wolle. "Ich glaube, die Wahrheit kommt immer heraus - früher oder später." (dpa/fra)
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