Diakon Karl Gatt überlebte vor 20 Jahren die Lawinenkatastrophe im österreichischen Galtür, bei der 38 Menschen ums Leben kamen.
Wie tröstet man Eltern, deren Kinder von einer riesigen Lawine überrollt und getötet wurden? "Am besten nicht viel reden", sagt Karl Gatt. "Man nimmt sie einfach in den Arm und hört zu." Auf keinen Fall sollte man so tun, als habe man eine Ahnung, was sie durchmachen. "Niemand weiß das", sagt der katholische Seelsorger und Notfallhelfer aus dem kleinen Tiroler Bergdorf Galtür.
Jährlich läuten die Kirchenglocken zum Gedenken
Vor 20 Jahren ereignete sich in diesem idyllischen Wintersportparadies inmitten der Alpen eine der schlimmsten Naturkatastrophen der Nachkriegszeit. Eine gigantische, hundert Meter breite Lawine aus Schnee und Staub donnerte mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde ins Tal.
Bald darauf erfasste eine neuerliche Lawine die benachbarte Siedlung Valzur. Bei dem Unglück kamen 38 Menschen ums Leben, darunter 21 Touristen aus Deutschland und neun Österreicher.
Noch heute läuten in Galtür jedes Jahr am 23. Februar um 17 Uhr die Kirchenglocken, um an das große Unglück zu erinnern. Inzwischen umringt die Gemeinde ein mächtiger Schutzwall.
700 Tonnen Stahl sollen verhindern, dass sich die Katastrophe wiederholt. Und immer noch bangen vor allem die Einheimischen, wenn tagelang der Schnee fällt. "Jedes Gespräch kommt früher oder später auf die Lawine", sagt Diakon Gatt. "Sogar bei Taufgesprächen war es schon ein Thema."
Lawinen immer wieder ein Thema in Galtür
Im Katastrophenjahr 1999 war Gatt ein junger, verheirateter katholischer Seelsorger, der den greisen Ortspfarrer unterstützen sollte. Nur wenige Monate zuvor hatte er seine Diakonsweihen empfangen.
Gatt war in Galtür aufgewachsen und kannte die Erzählungen der Alten von riesigen Lawinen, die im Lauf der Jahrhunderten schon zahlreiche Menschenleben gefordert hatten. "Wenn ich mir die Kirchenchronik von früher ansehe, dann war immer wieder von Lawinen die Rede."
Dass Wetterkapriolen und eine Verkettung unglücklicher Zustände allerdings zu einer derartigen Katastrophe führen könnten, damit hatte keiner im Dorf gerechnet. Zuvor waren fast vier Meter Neuschnee gefallen. Tagelang hatte es wie wild geschneit.
Aufgrund der hohen Lawinengefahr hatten die österreichischen Behörden bereits eine Evakuierung des Dorfes erwogen, sich aber am Ende dagegen entschieden. Rund 15.000 Menschen – zum überwiegenden Teil Touristen – waren zu diesem Zeitpunkt in Galtür.
"Als es geschah, saß ich mit meiner Frau in der Küche und habe Kaffee getrunken", erzählt Gatt. "Auf einmal wurde es dunkel, vor dem Fenster rieselte Schnee." Noch blieb der Geistliche ruhig, sein Haus wurde weitgehend verschont. Doch er ahnte, dass es in anderen Ortsteilen anders aussehen könnte. "Ich ging nach draußen, um nachzusehen."
Auf seinem Weg ins Dorf traf er erst auf Einheimische, die mit Schaufeln den Schnee aus ihren Kellern beseitigen wollten. Auch ihre Häuser wurden nur von den Ausläufern der Lawine erfasst. Doch etwas weiter entfernt, beim Kegel der Lawine, sah er eine Traube von Menschen, die bereits verzweifelt nach Angehörigen suchten.
"Ich habe die beschädigten Hotels gesehen, in denen noch Gäste und Mitarbeiter waren." Schließlich kam er zu dem Kegel der Lawine, dort, wo ihre Zerstörungskraft am schlimmsten war.
"Ich erinnere mich an eine Familie, die einen Spaziergang gemacht hatte. Die Kinder saßen auf einer Rodel, Vater und Mutter standen daneben, als es geschah." Die Kinder wurden von der Lawine erdrückt, während die Eltern überlebten. Er begleitete sie an einen sicheren Ort, wo sie die verbliebenen Kleidungsstücke ihrer Kinder weglegten: "Sie haben die kleinen Schuhe hervorgeholt. Das war für mich die berührendste Erfahrung."
Schnelle Evakuierung von Gatür war unmöglich
Eine rasche Evakuierung des Ortes war unmöglich. Zahlreiche Menschen mussten in Notschlafquartieren ausharren. Durch seine Tallage war Galtür von der Außenwelt abgeschnitten, alle Straßen blockiert. Selbst Hubschrauber konnten aufgrund der widrigen Wetterbedingungen nicht fliegen.
Also machten sich Einheimische und Touristen Hand in Hand daran, die gewaltigen Schneemassen zu beseitigen. 300.000 Tonnen, teilweise hart wie Beton, sodass es Kettensägen benötigte, um den Schnee zu lockern. "Einheimische und Gäste wurden zu einer großen Familie", sagt Gatt.
Nicht nur bei den Aufräumarbeiten halfen alle zusammen. Auch in der Bewältigung des Schocks und der Trauer um tote oder vermisste Angehörige sei man einander beigestanden. "Bei einer Katastrophe wie dieser halten die Menschen einfach zusammen", sagt der Seelsorger. "Darin sehe ich den verlängerten Arm Gottes."
Die Frage nach dem Warum der Katastrophe habe sich der Gottesmann hingegen nie gestellt. "Ich kenne seine Pläne nicht und weiß nicht, warum er das zugelassen hat. Aber ich weiß, dass er uns Menschen geschickt hat, die geholfen haben."
Schließlich schafften es die Einsatzkräfte doch noch, Galtür zu erreichen. Mit einem riesigen Aufgebot von Hubschraubern kam es zur größten Evakuierungsaktion, die Österreich je gesehen hatte: Rund 12.000 Menschen wurden ausgeflogen.
Seelsorger Gatt hielt auch nach der Katastrophe Kontakt zu den Angehörigen der Opfer. "Ich habe jeden von ihnen einen Monat später angerufen." Er habe sich lange zuvor überlegt, wie er ein solches Telefonat am besten beginnen könne. Am Ende entschied er sich für folgende Grußformel: "Haben Sie einen Moment Zeit." Fast alle hatten Zeit und waren froh, mit ihm zu reden.
Zumindest für Touristen, die längst wieder zahlreich nach Galtür kommen, deutet heute wenig auf die einstige Tragödie hin. Doch für die Einheimischen ist die Lawine weiterhin präsent – auch, wenn ihr Dorf von meterhohen Schutzwällen umgeben ist.
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