Nach aktuellem Stand gewinnt Demokrat Joe Biden die Präsidentschaftswahl. Umfrageinstitute hatten das prognostiziert – allerdings mit einem deutlich größeren Vorsprung für den Demokraten. Tatsächlich wurde die Wahl zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Politikwissenschaftler Martin Thunert erklärt, warum die Demoskopen erneut versagt haben.

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Noch ist die US-Wahl nicht endgültig entschieden – eins steht aber bereits fest: Der für Joe Biden prognostizierte klare Sieg ist ausgeblieben, stattdessen läuft in den Staaten noch immer ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Haben die Meinungsforscher wieder versagt?

Das Vorhersageportal "FiveThirtyEight" schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass Biden aus der Wahl als Sieger hervorgeht, noch bis kurz vor der Wahl auf 90 Prozent. Dass Biden der 46. US-Präsident wird, scheint aktuell zwar wahrscheinlich, eine klare Kiste wäre sein Wahlsieg dann aber nicht. Immerhin berechnete die Umfrage-Website "realclearpolitics" den Vorsprung des Demokraten im Schnitt auf 7,2 Prozentpunkte. Weitere Prognosen liegen daneben: Der Senat scheint nicht – wie vorhergesagt – zugunsten der Demokraten zu kippen, im Repräsentantenhaus haben die Republikaner sogar Sitze dazugewonnen.

US-Wahl: Swing-States falsch prognostiziert

Im wichtigen Swing-State Florida sahen Umfragen Biden bis zu 5 Prozentpunkte vorn, die 29 Wahlleute sicherte sich jedoch Trump. Auch im umkämpften Pennsylvania – laut Umfrage von "NBC News" Siegesschauplatz für Biden – liegt Trump, nachdem 89 Prozent der Stimmen ausgezählt sind (Stand: 5. November, 13 Uhr), vorn. Anlass für den republikanischen US-Senator Lindsey Graham (South Carolina), schon am Mittwoch auf einer Wahlveranstaltung zu kommentieren: "Pollsters, you have no idea what you are doing" – also etwa: "Demoskopen, ihr habt keine Ahnung, was ihr tut".

Martin Thunert ist Politikwissenschaftler am Heidelberg Center for American Studies. Er sagt: "Die Meinungsforschungsinstitute und Medien haben zum zweiten Mal versagt: Sie haben Trump – wie auch schon 2016 – unterschätzt. Und zwar über das Maß einer üblichen Fehlertoleranz hinaus."

Woran es (wahrscheinlich) nicht lag

Aber wieso erleben wir ein Déjà-vu von 2016? Hatten die Meinungsforschungsinstitute nicht beteuert, ausgereiftere Erhebungsmethoden machten einen erneuten Fauxpas unwahrscheinlich?

Thunert sieht mehrere Ursachen für die falschen Prognosen – rät aber zunächst zu einem Blick auf die Punkte, an denen es nicht lag.

Punkt 1: Der Spätentscheider-Effekt. Dazu sagt Thunert: "Trump konnte in seinem Wahlkampfendspurt noch einmal enorm viele Wähler mobilisieren, die am Wahltag zur Wahl gehen. So hat er etwa drei bis vier Millionen Stimmen mehr als 2016 erhalten." Eventuell habe sich dieses Mobilisierungspotential nicht mehr in den Umfragen niedergeschlagen, aber: "Mehr als die Hälfte der Amerikaner haben ihre Stimmen schon ab September in Form von Briefwahl oder Early Voting abgegeben", erinnert Thunert.

Der Spätentscheider-Effekt könne daher nicht so sehr ins Gewicht fallen. 2016 hätten die "late decider" eine viel größere Rolle gespielt – viele Wähler hätten sich dort erst in den letzten Tagen vor der Wahl entschieden, Trump zu wählen.

Punkt 2: Dass es sich bei Umfragen stets nur um Momentaufnahmen handelt, hält der Experte zwar für zutreffend, werde von Demoskopen aber zu häufig als Ausrede verwendet. Er kommentiert: "Der Star der Meinungsforschungsbranche, Nate Silver, der in seine Analysen auf 'FiveThirtyEight' viele verschiedene Umfragen miteinbezieht, und auch die sogenannten tracking polls haben Bidens Vorsprung jetzt ebenfalls falsch eingeschätzt." Der Experte fordert: "Vielleicht sollten Medien bei Wahlprognosen strukturellen Faktoren wie Amtsinhaberbonus, Wirtschaftslage, Zustimmung zur Amtsführung und so weiter einen mindestens ebenso großen Stellenwert einräumen wie Umfragen."

Punkt 3: Auch eine etwaige politische Färbung der Umfrageinstitute erklärt laut Thunert nicht, warum die angenommene blaue Welle in Texas, Ohio und Florida ausblieb. "Zwar gibt es Umfrageinstitute – etwa Rasmussen Report -, die traditionell bessere Werte für konservative Politiker ausweisen, aber das ist kein Grund für das jetzige Danebenliegen", sagt Thunert. Man könne vielleicht Einzel-Polls misstrauen, aber bei "Poll of Polls" würden in der Diagnostik Dutzende Einzelumfragen verrechnet.

Woran es (wahrscheinlich) lag

Woran aber lag es dann? "Grund 1: Trump hat bei seinen Kernwählern – den berühmten weißen alten Männern – schlechter abgeschnitten als 2016. Aber er hat bei weißen Frauen, jungen männlichen Hispanics und Schwarzen deutlich überperformt", sagt Experte Thunert.

Dabei habe die höhere Wahlbeteiligung in Teilen der USA anders gewirkt als prognostiziert: "Zumindest in Florida hat Trump gezeigt, dass der Automatismus 'Höhere Minderheitenwahlbeteiligung gleich besseres Abschneiden der Demokraten' nicht stimmt", analysiert Thunert. Denn Trump habe dort bei den Latinos sehr gut abgeschnitten. Die 32 Millionen hispanischstämmigen Wahlberechtigten (13,3 Prozent aller Wahlberechtigten) stellen mittlerweile die größte stimmberechtigte Minderheit in den USA dar.

Rolle der Minderheiten

Zwar zeigen Wählerbefragungen der Nachrichtenagentur AP, dass die Latinos im Verhältnis von etwa 2:1 für Biden stimmten – ein deutlich geringerer Anteil aber als bei anderen Minderheiten wie Afroamerikanern. "Die Besonderheit in Florida ist, dass dort auch sehr viele Exil-Kubaner leben, die alles ablehnen, was nach Sozialismus klingt und Biden deshalb nicht gewählt haben", ergänzt Thunert. Ob die Latinos, die für Trump stimmten, auch in anderen Staaten unterschätzt wurden, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar.

Lügen in Umfragen

Thunert sieht weitere Gründe, warum die Umfragen falsch lagen: "Grund 2: Insgesamt hat die Coronakrise als Thema eine geringere Rolle gespielt, als angenommen", analysiert der Experte. Man habe angenommen, dass die Pandemie besonders die Wähler der Demokraten zu den Urnen treibe. Deutlich wichtiger sei letztlich aber das Thema Wirtschaft gewesen.

Und schließlich: "Grund 3: Gut möglich, dass viele Wähler bei den Befragungen gelogen haben", sagt Thunert. Das könne einerseits passiert sein, um die gegnerische Seite in Sicherheit zu wiegen und einen demobilisierenden Effekt zu erzielen. "Andererseits gibt es Wähler, die die Anonymität bei Umfragen bezweifeln und deshalb sozial erwünschte Antworten geben. Manche genieren sich dafür, dass sie Trump wählen", sagt der Experte.

Gefahr für die Demokratie

Dass die Umfrageinstitute erneut kein akkurates Bild der amerikanischen Wähler zeichnen konnten, hält Thunert für gefährlich. "Es schwächt das Vertrauen in die Demoskopie und stellt ihre Sinnhaftigkeit infrage", sagt der Politikwissenschaftler. Er erwarte eine Diskussion über die gesamte Branche. "Sie könnte sogar in eine existenzielle Krise kommen, wenn auch Medien als Konsequenz die Umfragen nicht mehr bezahlen wollen", sagt Thunert.

"Eigentlich hat die Umfragebranche seit 2008 geboomt, die Methoden sind immer besser geworden", sagt Thunert. Komme man jetzt nicht aus der Kater-Stimmung heraus, drohten auch Gefahren für die Demokratie: "Wenn Umfragen nicht mehr gemacht werden oder keine akkuraten Ergebnisse mehr liefern können, wissen Wähler nicht, was ihre Mitbürger denken und werden auf ihre privaten Zirkel und Echokammern zurückgeworfen", warnt Thunert.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Politikwissenschaftler Dr. Martin Thunert
  • Realclearpolitics.com: General Election Trump vs Biden
  • NPR.org: Understanding The 2020 Electorate: AP VoteCast Survey, 3.11.2020
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