Im Verhältnis zu seinen rund 200.000 Corona-Fällen hat Russland mit 1.800 Verstorbenen noch immer sehr wenige Todesfälle. Dies könnte an der fragwürdigen Feststellung der Todesursache liegen.
Während die Zahl der bestätigten Coronafälle in Russland mit rund 200.000 einen neuen Höchststand erreicht hat, bleibt die offizielle Zahl der Todesopfer mit gut 1.800 im Vergleich zu anderen Ländern erstaunlich niedrig. Russische Regierungsvertreter erklären das mit der hohen Testrate, doch Kritiker verweisen auf die fragwürdige Feststellung von Todesursachen bei den Opfern.
"Wenn jemand an einem Herzinfarkt stirbt, aber auch COVID-19 diagnostiziert wurde, dann ist die offizielle Todesursache der Herzinfarkt", sagt Sergej Timonin vom Internationalen Laboratorium für Bevölkerung und Gesundheit an der Moskauer Higher School of Economics (HSE). "Mit anderen Worten: Nicht alle Todesfälle von Personen mit Corona werden als Todesfälle durch Corona gelistet."
Am Samstag lag Russland mit fast 198.700 bestätigten Infektionen weltweit an fünfter Stelle bei der Pandemie. Gleichzeitig meldete das Land nur 1.827 Todesfälle - eine Quote von unter einem Prozent - weit niedriger ist als in den zehn am meisten betroffenen Ländern.
Zum Vergleich: Im für seinen Umgang mit der Pandemie viel gelobten Deutschland liegt die Todesrate bei rund vier Prozent.
Viele Russen zweifeln an den Zahlen
Viele Russen zweifeln die Zahlen deshalb auch an. Daraufhin betonten das Gesundheitsministerium und die zuständige Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor, die Zahlen spiegelten die schnelle Reaktion des Landes auf die Pandemie wider. In einer Erklärung hieß es, Russland stehe mit inzwischen mehr als fünf Millionen Tests weltweit an zweiter Stelle hinter den USA.
So könnten "Patienten mit leichtem Verlauf als auch solche ohne Symptome identifiziert und schnell isoliert werden", was die Ausbreitung des Virus in der Öffentlichkeit und bei bestimmten Risikogruppen deutlich verringert habe.
Obwohl es Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit gibt, sind Virustests in Moskau bei privaten Laborunternehmen und Kliniken weit verbreitet. Seit Ende April bietet der Internetgigant Yandex auch kostenlose Tests für zu Hause an.
Ein Vertreter der Aufsichtsbehörde teilte anonym mit, die niedrige Infektionsrate der über 65-Jährigen zeige den Erfolg der russischen Strategie. Vor allem in Moskau wurde schon Mitte März angeordnet, dass Senioren über 65 zu Hause bleiben sollten.
Regierungsberater: Sterberate wird "ein Drittel der europäischen" betragen
"Russland hat sein Bestes gegeben, den Höhepunkt der Epidemie hinauszuzögern", betont auch der Infektiologe und Regierungsberater Jewgeni Timakow. "Wir haben unsere Grenzen geschlossen und sofort mit der Beobachtung der Infizierten begonnen." Damit habe man ein paar Wochen gewonnen, "um Risikopatienten zu isolieren und Krankenhausbetten zu organisieren". Die endgültige Sterberate werde "ein Drittel der europäischen" betragen, sagte er voraus.
Doch die fehlende Transparenz bei den Todesursachen lässt Zweifel aufkommen. Örtliche Medien berichteten über Fälle, bei denen als Todesursache Lungenentzündung angegeben wurde, obwohl der Verstorbene positiv auf Corona getestet worden war.
So auch bei Anastasia Petrowa: Die 36-jährige Journalistin verstarb am 31. März in Perm im Ural. Als Todesursache wurde "doppelseitige Lungenentzündung" festgehalten. Dies wurde erst auf COVID-19 geändert, als eine ihrer Freundinnen öffentlich von einem positiven Test kurz vor ihrem Tod berichtete.
Den ersten Corona-Todesfall, eine 79-jährige Frau, gab Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin am 19. März bekannt. Noch am selben Tag revidierten die Behörden diese Darstellung: Todesursache sei laut Autopsie ein Blutgerinnsel und nicht das Coronavirus.
Timonin von der Moskauer HSE erklärt, in Russland werde die Todesursache erst nach der Autopsie bestimmt. "Erst Ende Mai, wenn die April-Statistik herauskommt, werden wir die wahre Todeszahl von COVID-19 in Russland kennen." (AFP/lh)
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