Mehr als zweieinhalb Monate nach der Abriegelung von Wuhan werden die Beschränkungen in der Millionenmetropole aufgehoben. Aber Normalität empfinden viele nicht. Das Trauma ist noch lange nicht überwunden.
"In einer großen Epidemie müssen die Menschen Opfer bringen", findet Frau Sun. Mehr als zwei Monate hat die 65-Jährige nicht ihre Wohnung in Wuhan verlassen. "Es war absolut notwendig", sagt die 65-Jährige zu den weltweit wohl striktesten Ausgangssperren in der Metropole, dem Ursprungsort der Pandemie in Zentralchina. Elf Wochen nachdem Wuhan weitgehend von der Außenwelt abgeschottet worden war, fielen am Mittwoch (Ortszeit) die letzten Bewegungsbeschränkungen für die elf Millionen Bewohner.
Nutzung der Verkehrsmittel nur bei negativem Infektionsnachweis in Corona-Gesundheits-App
Der innerstädtische Verkehr wurde wieder normalisiert. Der Flughafen nimmt seine Flüge wieder auf. Kontrollposten auf den Straßen wurden abgezogen. Autos dürfen die Stadt wieder verlassen und die Menschen mit dem Zug auch wieder wegreisen. Voraussetzung ist aber, dass sie gesund sind und in einer jetzt überall in China eingesetzten Corona-Gesundheits-App auf ihrem Handy einen grünen Code nachweisen können. Wer aber irgendwie Kontakt zu Infizierten hatte, wird darin automatisch auf Rot gesetzt und darf nicht reisen.
Die Öffnung von Wuhan, wo das später Sars-CoV-2 genannte neue Coronavirus im November oder Anfang Dezember seinen Ausgang genommen und sich weltweit verbreitet hat, ist für China ein wichtiges Signal, das Schlimmste überwunden zu haben. Von den mehr als 81.000 offiziell gemeldeten Infektionen waren 50 000 allein in Wuhan. Auch waren von den mehr als 3.300 aufgelisteten Toten durch die Lungenkrankheit Covid-19 in China mehr als 2.500 allein in der Metropole zu beklagen - auch wenn wohl bei Weitem nicht alle Fälle mitgezählt wurden.
Jetzt werden in Wuhan die Barrikaden weggeräumt, die Bewohner in ihren Häusern gehalten hatten. Nachdem schon seit Tagen in China kaum noch neue Infektionen und nur noch "importierte Fälle" gemeldet wurden, weist die Statistik am Dienstag erstmals keinen neuen Toten mehr auf. Passend zur Öffnung von Wuhan - vorausgesetzt, die Statistik stimmt auch, woran es eben berechtigte Zweifel gibt.
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"Ich werde noch eine Weile zu Hause bleiben und nur nach draußen gehen, wenn es unbedingt sein muss"
Frau Sun hat es auch gar nicht eilig. "Ich werde noch eine Weile zu Hause bleiben und nur nach draußen gehen, wenn es unbedingt sein muss", sagt die pensionierte Finanzexpertin. "Seid vorsichtig", lautet ihr Rat an ihre Landsleute und auch an die Menschen in Deutschland und anderen Ländern. "Eine ansteckende Krankheit ist nicht das Problem einer einzelnen Person, sondern der ganzen Familie." Nach Aufhebung der Ausgangssperren werde sie erstmal nur draußen in ihrer Wohnanlage oder mal im nahe gelegenen Park spazieren gehen.
Jetzt sorgt sich Frau Sun vor allem um eine Ansteckung durch Infizierte, die keine Symptome zeigen oder von außerhalb Wuhans kommen. Gerade die Risikogruppe über 60 Jahre wie sie solle weiter vorsichtig sein und zu Hause bleiben, "um keine Belastung für die Familie und Gesellschaft zu werden". Die 65-Jährige erzählt, dass sie sich in der Isolation in ihrer Wohnung mit rhythmischer Gymnastik fit gehalten habe - dreimal am Tag. Auch habe sie gesungen, Gedichte rezitiert und Nachrichten aus China und dem Rest der Welt verfolgt. Gemüse und Fleisch zum Kochen sei an die Haustür geliefert worden.
Wuhan-Anwohnerin: "Prävention in anderen Ländern ist nicht so gut wie bei uns"
Ihre Tochter lebt in Australien. "Als die Epidemie in Wuhan so schlimm war, hat sie sich Sorgen gemacht. Jetzt mache ich mir Sorgen um sie", sagt Frau Sun, weil sich die Pandemie in anderen Ländern so rasant ausbreitet. "Vieles ist besser dort, aber deren Prävention ist nicht so gut wie bei uns." Anfangs sei in Wuhan einiges nicht so gut gelaufen. Es habe viel Unwissenheit gegeben, sagt Frau Sun. Aus ihrer Sicht reagieren aber andere Länder zu zögerlich. "Selbst jetzt, wo die Leute in der Welt die Krankheit kennen, sind ihre Präventionsmaßnahmen verspätet."
Die in Wuhan und der umliegenden Provinz Hubei für rund 56 Millionen Menschen verhängten strengen Ausgangssperren wurden allgemein als notwendig und keineswegs übertrieben betrachtet. "Die Entscheidung, die Stadt schnell abzuschotten, hat das Problem wirklich lösen können", sagt auch eine 25-jährige Studentin namens Zhu, die in den USA studiert, aber bei einem kurzen Besuch in Wuhan gestrandet war. "Ich hoffe, dass die unsichtbaren Gefahren durch das Virus beseitigt werden und das Leben in Wuhan zur Normalität zurückkehren kann."
Das Trauma der Krise quält die Schriftstellerin Fang Fang. "Am traurigsten war der Tod", sagt die 64-jährige Bloggerin, die mit ihrem Tagebuch aus Wuhan zu einer der meist gelesenen Autorinnen Chinas aufstieg. Ähnlich die Verzweiflung der Menschen, die medizinische Hilfe suchten, aber nicht fanden, sagt Fang Fang dem Magazin "Caixin". Mit Blick auf die anfängliche Vertuschung und die langsame Reaktion der Behörden sagt Fang Fang, die eine einflussreiche Stimme geworden ist: "Was mich am meisten verärgert hat, war die Verzögerung von fast 20 Tagen am Anfang des Ausbruchs, der diese ernste und chaotische Lage entstehen ließ - eine Katastrophe von Menschenhand." (Andreas Landwehr/dpa/ash)
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