- Weil immer mehr geimpft wird, sinkt die Nachfrage nach Impfreisen etwas; sie werden aber nach wie vor angeboten und finden auch Abnehmer.
- Die Medizinethikerin Christiane Woopen findet diese Angebote aus mehreren Gründen ethisch bedenklich.
- Sie sagt aber auch, dass das Problem einer gerechten Verteilung des Impfstoffs weit darüber hinausgeht.
Seit rund einem Jahr liegt der Tourismus weltweit weitgehend brach. Als Impfstoffe Anfang des Jahres überall knapp waren, nahmen einige Reiseveranstalter deswegen eine neue Geschäftsidee auf: Urlaub mit einer Impfung zu verbinden. Einer dieser Reiseveranstalter ist World Visitor - ein norwegisches Unternehmen, das in Nicht-Corona-Zeiten Urlaub in Deutschland, Italien, der Türkei, Dubai und Russland organisiert. Seit ein paar Monaten versucht World Visitor nun, durch Impfreisen etwas Geld hereinzuholen.
Russland ist das Ziel, Sputnik V der Impfstoff, der Trip kostet mehrere tausend Euro. Für 2 mal 3 Nächte in Moskau sind es zum Beispiel von Deutschland oder der Schweiz aus 1.999 Euro - inklusive Flüge. Nicht inbegriffen sind die Gebühren für das Visum, hinzu kommen außerdem etwa 400 Euro "Behandlungskosten" rund um die Impfungen, die im Abstand von drei Wochen stattfinden. Wer die drei Wochen lieber gleich in Russland bleiben möchte, kann für knapp 2.600 Euro in einem Spa urlauben. Einzelzimmer kosten extra, es fallen 300 Euro Behandlungskosten an, die Gebühren für ein Visum kommen noch dazu. Es gibt auch visafreie Reisen, etwa bei einer Einreise über die Türkei nach Sotschi.
Impfreisen als Mittel zur Pandemiebekämpfung?
Rund 150 Personen hätten bislang eine Impfreise gemacht, circa 600 hätten sich angemeldet, teilte uns ein Sprecher von World Visitor auf Anfrage mit. Der größte Teil der Anfragen komme aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern vor allem Westeuropas. Die Impfreisen werden also trotz des höheren Impftempos weiterhin nachgefragt, "mit stabiler bis leicht abnehmender Tendenz", wie der Sprecher schreibt.
Es gab noch andere Anbieter, die Impfreisen organisieren wollten, allerdings wurden diese Pläne nicht umgesetzt. Entweder weil es, wie im Fall von Impfreisen.at rechtliche Hürden gab. Oder weil man, wie bei Fit Reisen, doch wieder von der Idee abrückte. Der Anbieter von Gesundheits- und Wellnessreisen befand irgendwann, dass die Impfstoffversorgung bald gut sein werde und "diese Impfreisen keinen bedeutenden Beitrag zur hiesigen Pandemiebekämpfung leisten können.
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"Priorisierungen sind wichtig"
Inwiefern solche Angebote überhaupt einen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten, ist aber die Frage. Die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, Christiane Woopen, hält sie - im Gegenteil - für "ethisch sehr problematisch".
Die Medizinethikerin und Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln sieht zwar durchaus die Nöte der Tourismusbranche, findet Impfreisen-Angebote aber dennoch falsch. "Es gab und gibt nicht umsonst eine Priorisierung bei den Impfungen: damit zum Beispiel diejenigen, die das höchste Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf haben, als erste geschützt werden", sagte Woopen im Gespräch mit unserer Redaktion.
Wo Impfstoffdosen fehlen
Durch Reisen, mit denen sich vor allem eher gut situierte Menschen eine Impfung quasi "außer der Reihe" abholen können, werde diese Priorisierung ausgehebelt. Dass jede oder jeder Geimpfte das Risiko einer Ansteckung für andere senkt, ist für Christiane Woopen dabei kein zulässiges Gegenargument. "Eine Priorisierung dient ja auch dazu, Menschen zuerst zu impfen, die besonders viel Kontakt mit anderen haben, zum Beispiel Lehrer." Zudem sei bei manchen Impfstoffen im Ausland die Datenlage unklar."
In Deutschland wurde die Priorisierung für die Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson inzwischen aufgehoben, generell soll sie spätestens im Juni fallen. Diese Schritte sind aus Sicht des World-Visitor-Sprechers ein Grund, warum es derzeit keine "Kritiker oder sogenannte Ethikfragen" mehr gebe. Außerdem habe sich offenbar die Erkenntnis durchgesetzt, dass "jeder im Ausland Geimpfte einen Platz im Heimatland freimacht".
Christiane Woopen überzeugt das nicht: "Im Zweifelsfall fehlen diese Impfdosen ja dann im Impfreise-Land." Wobei dies nicht für jedes Land in gleichem Maße gelte. In Russland etwa sei die Impfbereitschaft offensichtlich nicht besonders hoch. Es kann also durchaus sein, dass dort Impfdosen übrig bleiben. Laut Our World in Data, einer Website der Universität von Oxford, liegt die Impfquote in Russland aktuell bei 9 Prozent (Stand: 9. Mai). In Deutschland haben mittlerweile rund 33 Prozent der Menschen die erste Impfdosis erhalten (Stand: 10. Mai). Mit Blick auf Russland sagt Christiane Woopen deswegen: "Hier wäre es sinnvoller, die Anstrengungen in eine Informationskampagne zu stecken, damit sich mehr Menschen dort impfen lassen."
Nur zwei Prozent aller Impfdosen werden in Afrika verimpft
Hinter all dem steckt die grundsätzliche ethische Überlegung, dass Impfungen nicht an Menschen gehen sollten, nur weil diese es sich leisten können. "So etwas verstärkt soziale Ungleichheit, die durch die Pandemie ohnehin immer größer wird", sagt Woopen - und meint damit nicht nur sozial schwächere Menschen in Deutschland, sondern auch Menschen in ärmeren Ländern, etwa in Afrika. Bislang wurden 50 Prozent der Impfdosen in den USA und China verimpft - und nur zwei Prozent in Afrika", erklärt die Medizinethikerin.
Dieses Missverhältnis ändert sich natürlich nicht allein dadurch, dass es keine Impfreisen mehr gibt. Gegen diese globale Ungleichverteilung gibt es Programme wie Covax der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die EU hat für Covax eine große Menge Impfdosen bereitgestellt, für eine Pandemiebekämpfung wie in Europa oder den USA sind es aber insgesamt zu wenig. "Von dem Ideal, dass Impfstoff ein globales Allgemeingut wäre, sind wir weit entfernt", sagt Woopen.
Bei Covax zeigt sich quasi im Großen, was sich im Kleinen an Impfreisen zeigt: dass Solidarität ihre Grenzen hat. Christiane Woopen hofft nun darauf, dass einige Impfstoffproduzenten Lizenzen vergeben. So wäre zumindest eine Grundlage dafür geschaffen, dass die Impfstoffproduktion weltweit erhöht und die Pandemie in mehr Ländern besser bekämpft werden könnte.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit der Medizinethikerin Professor Christiane Woopen
- Anfrage an Reiseveranstalter World Visitor
- Our World in Data
- Impfdashboard des Gesundheitsministeriums
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