Pharma-Unternehmen und Wissenschaftler forschen unter Hochdruck an Arzneimitteln gegen COVID-19. Die Zahl der "Kandidaten" ist hoch, denn ein einzelnes Medikament wird im Kampf gegen die Pandemie nicht genügen.
In der Corona-Krise richten sich die Hoffnungen derzeit vor allem auf die Entwicklung von Impfstoffen. Doch sie allein werden nicht genügen, um der Pandemie Herr zu werden. "Wir brauchen Impfstoffe, um die Pandemie beenden zu können. Wir brauchen aber auch Medikamente, weil es Kranke gibt, die dringend Behandlung brauchen", betont Dr. Rolf Hömke, Sprecher des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), im Gespräch mit unserer Redaktion.
Auf jeden Fall läuft die Suche derzeit auf Hochtouren. Nach Hömkes Auskunft sind derzeit rund 300 Medikamente gegen Covid-19 in der Entwicklung – sowie ungefähr 180 Impfstoffe. "Das hat es in dieser Größenordnung noch nie gegeben", sagt Hömke.
Mehrere Wirkstoffe statt einzelnes "Super-Medikament"
Dass gleichzeitig an so vielen Arzneimittel-Kandidaten geforscht wird, ist nötig. Denn das eine "Super-Medikament" wird es nicht geben. Für die unterschiedlichen Phasen der Covid-19-Erkrankung sind viel mehr spezielle Wirkstoffe nötig. In der frühen Phase sollen Arzneien verhindern, dass sich das Virus schnell im Körper vermehrt und verbreitet. Zu großer Bekanntheit hat es Remdesivir gebracht, das als erstes Arzneimittel in der EU eine bedingte Zulassung zur Behandlung von Corona-Patienten erhalten hat. Erste Studien weisen darauf hin, dass es die Genesungszeit deutlich verkürzen kann.
Remdesivir wurde ursprünglich als Arzneimittel gegen das Ebolavirus entwickelt. Dass bereits bekannte Wirkstoffe gegen andere Erkrankungen wie HIV oder Hepatitis nun auch für die Behandlung von Corona-Patienten getestet werden, ist kein Einzelfall. Wenn sie auf mögliche Nebenwirkungen getestet und zugelassen sind, spart die Erprobung Zeit. Die deutsche Merck-Gruppe zum Beispiel spendet ihr Multiple-Sklerose-Medikament Rebif für drei klinische Studien. In den USA will das nationale Forschungszentrum NIAID zum Beispiel herausfinden, ob es in Kombination mit Remdesivir die Genesungsdauer weiter senkt.
Doch um die ganze Bandbreite der Covid-19-Erkrankung abzudecken, reichen diese virushemmenden Wirkstoffe nicht. "Ein Medikament, das in dem einen Stadium richtig ist, kann im anderen Stadium das falsche sein", erklärt Rolf Hömke. Geforscht wird deshalb auch an Medikamenten, die die Abwehrreaktion des Körpers begrenzen, wenn diese über ein gesundes Maß hinausgeht. Merck zum Beispiel testet gerade an 150 Studienteilnehmern in den USA und Brasilien die Wirkung des selbst entwickelten Arzneimittel-Kandidaten M5049. Er soll bei Patienten mit einer Lungenentzündung eine sogenannte hyperinflammatorische Reaktion des Körpers verhindern.
"Solange die Krankheit in einem frühen Stadium ist, möchte man die Virusabwehr stärken. Wenn es aber in einem späteren Stadium zu einer exzessiven Immunabwehr kommt, möchte man diese dimmen", erklärt Rolf Hömke. Eine solche Immunabwehr richte im Körper mehr Schaden an als dass sie nützen würde.
Neben diesen beiden Gruppen – also virushemmenden sowie entzündungshemmenden Medikamenten – kommen weitere Arzneimittel bei COVID-Patienten zum Einsatz: etwa Wirkstoffe, die langfristige Schädigungen der Lunge begrenzen – oder auch Herz-Kreislauf-Medikamente zum Beispiel gegen Blutgerinnsel.
Internationale Zusammenarbeit
Die Forschung läuft derzeit auf Hochtouren. Pharma-Firmen arbeiten dabei häufig in Verbund mit anderen Unternehmen oder wissenschaftlichen Einrichtungen – und das grenzüberschreitend. "Ohne Kooperation wäre die Wissenschaft langsamer bei Antworten auf die drängenden Fragen", sagt Gangolf Schrimpf, Sprecher des Pharma-Unternehmens Merck. Das gelte allgemein – und auch speziell rund um Covid-19. Merck zum Beispiel arbeitet in der Impfstoff-Entwicklung mit Forschungsinstituten in Großbritannien und den USA zusammen. Ein weiteres Beispiel ist die europäische Initiative IMI, die sich zum Ziel gesetzt hat, Behandlungsmöglichkeiten für Covid-19 zu finden. Zu den deutschen Teilnehmern der Initiative gehören neben Merck unter anderem die Unternehmen Bayer und Boehringer Ingelheim sowie verschiedene Universitäten.
Schnellere Verfahren – aber keine Abstriche
Der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit ist hoch. Doch für die Zulassung von Arzneimitteln gelten strenge Regeln. Schließlich muss zunächst klar sein, ob und wie sie wirken und welche Nebenwirkungen sie auslösen könnten. Wirkstoff-Kandidaten müssen als erstes vorklinische Tests im Labor und bei Tierversuchen durchlaufen. Dem Verband VFA zufolge vergehen vom Projektbeginn bis zum Ende dieser vorklinischen Entwicklung typischerweise mehr als fünf Jahre. Erst danach kann ein Wirkstoff auch an Menschen erprobt werden – und das auch wieder in drei verschiedenen Phasen. In Phase I wird ein Arzneimittel zunächst an wenigen Gesunden getestet, in Phase II mit wenigen Erkrankten in Phase III mit vielen Erkrankten.
Im Fall der Corona-Pandemie, so könnte man meinen, ist für jahrelange Verfahren keine Zeit. Doch die Vorgaben für die Zulassung von Covid-19-Medikamenten sind die gleichen wie für andere Medikamente. "Die diversen Richtlinien, Vorgaben und Gesetze weltweit für die Erforschung, Entwicklung und Zulassung von Medikamenten gibt es aus gutem Grund", sagt Merck-Sprecher Gangolf Schrimpf. "Und sie kommen zurecht auch bei den Arbeiten gegen Covid-19 zur Geltung."
Bei den Anforderungen werden keine Abstriche gemacht, sagt auch VFA-Sprecher Rolf Hömke. "Allerdings wird alles, was mit Covid-19 zusammenhängt, derzeit vorrangig behandelt." Wenn Firmen zum Beispiel die Erlaubnis für Tierversuche beantragen, behandeln die zuständigen Behörden diese Anträge mit Priorität. Auch für die Erprobungsphase mit Freiwilligen gibt es Erleichterungen. Normalerweise kann eine Firma diese Versuche erst beantragen, wenn sie alles Nötige dafür zusammen hat. "Im Falle von Corona ist es aber auch möglich, einzelne Kapitel des Antrags nach und nach einzureichen. Das ermöglicht eine enorme Beschleunigung", sagt Hömke.
Weitere Zulassungen in den nächsten Monaten?
Was die Entwicklung eines Impfstoffs angeht, ist Rolf Hömke durchaus optimistisch. "Es besteht die Chance, dass es einen Impfstoff schon Anfang des nächsten Jahres gibt. Der würde sicherlich noch nicht in der Menge produziert werden können, die für alle reicht – aber zumindest, um das medizinische Personal zu impfen."
Nach Remdesivir könnten weitere "umfunktionierte" Arzneimittel seiner Einschätzung nach innerhalb der nächsten Monate zugelassen werden. Von neu entwickelten Wirkstoffen bestehe bei Antikörper-Medikamenten die Chance, dass eines davon ebenfalls noch in diesem Jahr zugelassen wird. "Das wäre phänomenal schnell."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Rolf Hömke, Forschungssprecher vfa, Verband Forschender Arzneimittelhersteller
- Gespräch mit Gangolf Schrimpf, Merck Group
- Apotheken-Umschau: Medikamente gegen COVID-19 -- die verschiedenen Ansätze
- Innovative Medicines Initiative: CARE Corona accelerated R&D in Europe
- Robert-Koch-Institut: Wie ist die aktuelle Datenlage zur Behandlung von Covid-19 mit Remdesivir?
- vfa, die forschenden Pharma-Unternehmen: So entsteht ein neues Medikament
- vfa, die forschenden Pharma-Unternehmen: Therapeutische Medikamente gegen die Coronavirusinfektion Covid-19
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