Experten warnen vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems wegen der Coronakrise und fordern deutlich strengere Maßnahmen. Das Beispiel Wuhan macht ihnen dabei Hoffnung.
Um die Ausbreitung des neuen Coronavirus in Österreich so zu begrenzen, dass das Gesundheitssystem nicht Mitte April zusammenbricht, brauche es deutlich verschärfte Maßnahmen. Das schreiben namhafte Wissenschafter in einer der APA vorliegenden "Stellungnahme zur COVID Krise". Gelingt es nicht, die Ansteckungsraten zu reduzieren, sei mit "Zehntausenden zusätzlichen Toten" zu rechnen.
"Keinesfalls dürfen Hoffnungen auf eine baldige Lockerung der Restriktionen geweckt werden. Wahrscheinlich benötigt dies deutlich strengere Maßnahmen als derzeit in Kraft sind", heißt es in dem Papier, das die Basis für die heutige Entscheidung der Regierung für die weitere Vorgangsweise zur Eindämmung der Corona-Epidemie in Österreich bildet.
Der Gruppe gehören die Mathematiker Mathias Beiglböck, Philipp Grohs, Walter Schachermayer (Uni Wien) und Joachim Hermisson (Uni Wien, Max Perutz Labs), der Direktor des Gregor-Mendel-Instituts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Magnus Nordborg, sowie der Mathematiker und Rektor der Universität Wien, Heinz Engl, und der Rektor der Medizinischen Universität Wien, Markus Müller, an.
Die entscheidende statistisch-epidemiologische Größe ist für die Autoren die Replikationsrate ("Basisreproduktionszahl", kurz "R0"). Hier handelt es sich um die Anzahl an Personen, die ein Erkrankter im Durchschnitt ansteckt. Der Schlüssel zur Kontrolle der Epidemien in China oder Südkorea, lag den Forschern zufolge darin, dass diese Länder es geschafft haben, "den Replikationsfaktor R0 von anfänglichen Werten von etwa 4 auf einen Wert unter 1 zu drücken", schreiben sie.
So könnte die Zahl der Todesfälle reduziert werden
Das Team hat das international aktuell "favorisierte epidemiologische Prognose-Modell" auf die österreichische Situation angepasst. Unter der "optimistischen Annahme" einer R0 von 0,9 - jeder Infizierte steckt hier weniger als eine weitere Person an - bleibt der Bedarf an Intensivbetten unter der maximalen Intensivkapazität, die Anzahl der Todesfälle in Österreich bliebe demnach bis Ende des Jahres bei rund 6.000.
Die Intensivkapazität sei hierzulande ausgelastet, wenn 125.000 Personen beziehungsweise 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung gleichzeitig angesteckt sind. Ab dann erhöhe sich die Todesrate stark - auch weil es nicht mehr genug Möglichkeiten zur Beatmung der Patienten gebe.
Um das zu verhindern sei es notwendig, den täglichen prozentuellen Zuwachs an neu Erkrankten von derzeit laut den Wissenschaftern geschätzten rund 14 Prozent auf sieben Prozent zu senken. "Mehr als sieben Prozent Wachstum führt zur exponentiellen Ausbreitung", schreiben sie. Unter der "realistischen Annahme" eines Replikationsfaktors von 1,7 sprenge der Intensivbettenbedarf bereits Mitte April die Kapazitäten, um diese dann im Sommer um ein Vielfaches zu übersteigen. Um dies zu verhindern, sei kaum noch Zeit.
Bleibe es hingegen bei den aktuellen Zuwachsraten, wären laut der Prognose bis Ende des Jahres in Österreich fast 100.000 Tote zu beklagen. Bleibt die Rate bei dem vor den Maßnahmen zur sozialen Distanzierung verzeichneten täglichen Zuwachs von 30 Prozent, wären es sogar über 120.000 Tote.
Hoffnung gibt den Experten zufolge das Beispiel von Wuhan, die chinesische Stadt, wo die Epidemie ihren Ausgang genommen hat. China habe es dort - in zwei Schritten - geschafft die Replikationsrate auf 0,32 zu drücken und die Krise sei dadurch innerhalb weniger Wochen bewältigt gewesen.
Ansteckungen im Gesundheitsbereich müssen verhindert werden
In ihrem Papier betonen die Experten, wie wichtig es ist, Ansteckungen und Übertragungen im Gesundheitsbereich zu verhindern: Das Beispiel Italiens habe gezeigt, dass Ärzte und Pflegepersonal als sogenannte "superspreader" den Virus an viele Personen weiter geben können. Dies sei dort "ein massives Problem".
Fungieren Kliniken als "superspreader", wie das in Italien mit rund zehn Prozent aller Infizierten unter dem Gesundheitspersonal und bisher rund 50 verstorbenen Ärzten der Fall sei, schnellen die Fall- und Todeszahlen bis zum Sommer rapide in die Höhe. Stellt man hingegen den Bereich unter strikte Quarantäne, separiert Krankheits- und Verdachtsfälle, trifft umfassende Schutzmaßnahmen und führt engmaschige Tests des Personals durch, geht die Dramatik deutlich zurück, so die Prognose.
Neben den speziellen Maßnahmen zum Schutz des Gesundheitspersonals fordern die Wissenschafter das rigorose Umsetzen der bisherigen Maßnahmen und noch deutlich mehr: So sollte etwa auch die Anzahl der Kunden im Supermarkt durch Sicherheitspersonal kontrolliert werden und es Abmahnungen bei Zuwiderhandlung geben. Überdies brauche es "Maßnahmen zur Eindämmung von Ansteckungen durch asymptomatisch infizierte Personen". Verstärktes Testen, auch durch bisher nicht validierte Tests aus Forschungslaboren".
Unter der Annahme, dass die Versorgung mit Gesichtsmasken sichergestellt ist, brauche es einen stärkerer Einsatz der Schutzmasken. "Auch wenn der individuelle Schutz von Gesichtsmasken nicht sehr hoch sein mag, scheint der statistische Effekt auf die Ausbreitung der Krankheit erheblich zu sein", heißt es in dem Papier.
Die Kontakte, die Infizierte in den Tagen vor dem Test hatten, sollten unter Mithilfe von Handydaten nachvollzogen werden. "Risikogruppen und insbesondere Erkrankte mit leichten Symptomen sollten besser isoliert werden. Ideal wäre es, einen Versorgungsdienst von Lebensmitteln für die Risikogruppe zu organisieren", heißt es weiter. Nicht zuletzt regen die Wissenschafter die "Einrichtung von speziellen "fever hospitals", das heißt Einrichtungen die speziell für Covid19-Infizierte reserviert sind", an.
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