Am Anfang einer Beziehung herrscht zumeist noch vollkommene Harmonie. Doch was, wenn sich die ersten Streitigkeiten einschleichen? Wie sollten Paare damit umgehen? Das und wie man auch als Erwachsener noch richtiges Streiten lernen kann, erklärt die Psychologin und Autorin Stefanie Stahl im Interview.
Wer frisch verliebt ist, schwebt nicht nur auf Wolke sieben, sondern trägt auch noch die rosarote Brille. Doch was, wenn sich in einer jungen Beziehung erste Konflikte anbahnen? Wie kann man auf Augenhöhe streiten, ohne die Partnerschaft zu gefährden? Und wie formuliert man Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen, ohne den anderen zu überfordern oder zu verletzen und ohne die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen?
Die Psychologin und Autorin Stefanie Stahl weiß: "Je höher die Wolke war, auf der man zuvor schwebte, umso tiefer fühlt sich der Fall an." Im Interview ordnet sie ein, welche Rolle Streit in einer funktionierenden Beziehung spielen sollte und wie man "richtig" streitet. Außerdem erklärt sie, welche Rolle das Festsetzen eigener Grenzen in diesem Zusammenhang spielt und wie konfliktscheue Menschen mit Streitereien umgehen können.
Frau Stahl, wie wichtig ist es, in einer Beziehung zu streiten?
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Stefanie Stahl: Tatsächlich ist nicht der Streit selbst wichtig, sondern vielmehr die Tatsache, sich in einer Beziehung mit Streit auseinanderzusetzen. Dabei geht es darum, dass beide Seiten offen ihre Wünsche, Bedürfnisse, aber auch Grenzen kommunizieren. Jeder Part einer Beziehung ist zu 50 Prozent verantwortlich für das Gelingen dieser Partnerschaft. Das beinhaltet, die Verantwortung für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu übernehmen. Wenn es dann, so wie in den meisten Beziehungen, mal zu einem Streit kommt, ist es also wichtig, dass ein Grundvertrauen existiert. Ist dieses Vertrauen vorhanden, sind auch Streitereien möglich, ohne dass man sich das Gesagte vorwirft oder sich gar trennt. Dennoch sollten die wirklich wichtigen Themen in Ruhe statt im Streit besprochen werden.
Es gibt ja Paare, die von sich behaupten, eine vollkommen streitfreie Beziehung zu führen.
Es gibt Paare, die ausgesprochen konfliktscheu sind. Dieses Verhalten ist meiner Meinung nach überhaupt nicht gesund: Indem eine konfliktscheue Person versucht, einer Auseinandersetzung ständig aus dem Weg zu gehen, führt das zu einer zähen und langweiligen Beziehung, weil sie an Dynamik verliert. Konfliktscheue Beziehungspartner erstarren gewissermaßen in dieser Anpassung und lassen sich und ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen. In der Folge fühlen sie sich nicht mehr wohl in der Beziehung, was auf Dauer nicht gutgehen kann.
Tatsächlich gibt es aber Paare, die auf einer gesunden Basis sehr harmonisch miteinander sind, da sie sehr gut zueinander passen. Dieses Match basiert in der Regel auf Vertrauen und gemeinsamen Werten, sodass es entsprechend wenig Diskussionsbedarf gibt.
Was empfehlen Sie sogenannten People Pleasern, denen Streiten per se schwerfällt?
Weil People Pleaser nicht authentisch sind, findet ihrerseits häufig eine Form der Manipulation statt, was eine Konfliktsituation für das Gegenüber entsprechend erschwert. Denn ein Konflikt kann nur dann aus dem Weg geräumt werden, wenn Bedürfnisse oder Grenzen klar benannt werden. Findet das nicht statt, ist ein People Pleaser nach innen hin verwundet. Und gleichzeitig hat der andere Part keine Chance, die Beziehung zu bereinigen. Insofern empfehle ich People Pleasern, sich unbedingt mit ihren alten Kindheitsmustern, aus denen diese emotionalen Überlebensmuster resultieren, auseinanderzusetzen.
Was ist ein People Pleaser?
- Beim People Pleasing geht es darum, die Erwartungen und Wünsche anderer zu erfüllen, um Anerkennung und Bestätigung zu erhalten. Betroffene fällt es oft schwer, "Nein" zu sagen, sie haben Angst abgelehnt zu werden oder anderen zur Last zu fallen. Daher stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse häufig in den Hintergrund. Das wirkt wie Selbstlosigkeit, ist aber oft Ausdruck von Unsicherheit sowie Angst vor Ablehnung. People Pleaser sind bestrebt, Konflikte zu vermeiden und die Harmonie aufrechtzuerhalten. Quelle: AOK
Häufig kommt es in der Phase des frisch Verliebtseins so gut wie nie zu Streitereien: Ist man während dieser Phase wirklich "blind vor Liebe"?
Vor allem ist man in einem Hormon-High, in einer wahren Euphorie. Und wer euphorisch ist, fühlt sich zunächst einmal von nichts gestört. In diesem Hochgefühl der Verliebtheit stellt man viele Verhaltensmuster des Gegenübers nicht infrage. Beruht die Verliebtheit dann auch noch auf Gegenseitigkeit, entstehen zunächst so gut wie keine Konflikte.
Umso herausfordernder ist es, wenn es dann plötzlich irgendwann zu ersten Streitereien kommt, die die Betroffenen von ihrer rosaroten Wolke holen …
So ist es. Je höher die Wolke war, auf der man zuvor schwebte, umso tiefer fühlt sich der Fall an. Aus diesem Grund bringt die Phase der ersten Verliebtheit deutlich mehr emotionale Achterbahnfahrten mit sich als eine jahrelange, feste Beziehung. Kommt es also während der ersten Verliebtheit bereits zu wiederkehrenden Streitereien, empfiehlt sich ein genauer Realitäts-Check, was dahinter steckt und was möglicherweise nicht stimmt zwischen den Betroffenen.
Wann ist ein Streit überhaupt ein Streit?
Wenn die Betroffenen wirklich konträrer Meinung sind und diese Meinungen nicht gut verhandelbar sind. In diesem Fall kippt die Situation häufig ins Destruktive und Kränkungen oder lautstarke Auseinandersetzungen finden statt, woraufhin sich die Betroffenen verletzt fühlen und sich zurückziehen. In diesem Zusammenhang darf man natürlich nicht vergessen, dass vor allem konfliktscheue Menschen einen Streit ganz anders definieren als ein Mensch, der nicht konfliktscheu ist. Während der eine Part eine Situation als unaufgeregte Auseinandersetzung wahrnimmt, versteht eine konfliktscheue Person die Situation womöglich als Eskalation. Die Schwellen sind also häufig unterschiedlich definiert.
Womit wir wieder beim Setzen von Grenzen wären …
Genau. Diese Grenzen sollten auch während der ersten Phase der Verliebtheit klar kommuniziert werden. Denn Kompromisse lassen sich häufig leichter finden, als man zunächst denken mag. Jedoch kann ein Kompromiss nur gefunden werden, wenn beide klar ihre Bedürfnisse äußern.
Sie sprachen eingangs von den Prägungen aus unserer Kindheit, die sich maßgeblich auf unser Streitverhalten auswirken. Sollten Eltern ihren Kindern also die Fähigkeit zum Streiten schon im Kindes- und Jugendalter mitgeben?
Unbedingt. Dieser Prozess beginnt bereits mit der Reaktion von Eltern auf die Wut ihrer Kinder. Zeigen Eltern sich mit Blick auf Wutausbrüche von Kleinkindern etwa enttäuscht, ziehen die Kinder daraus die falschen Schlüsse. In der Folge versuchen sie, nicht mehr wütend zu sein, weil diese Gefühlsregung ihre Mama ja traurig machen könnte. Somit erlernen diese Kinder schon früh eine Aggressionshemmung.
"Sowohl konfliktscheue Menschen als auch solche, die im Streit zu Aggressionen neigen, sollten feststellen, wo ihre Trigger liegen."
Ein anderes Beispiel: Streiten Eltern sich viel und laut in Gegenwart des Kindes, empfindet es Streit als Bedrohung. Bedeutet: Das Kind entwickelt entweder eine Aggressionshemmung oder ahmt das Verhalten der Eltern nach und zeigt sich im Erwachsenenalter entsprechend streitbar oder aggressiv.
Eine Prägung kann also entweder in die eine oder andere Richtung gehen …
So ist es. Eltern sind starke Vorbilder und legen sehr viele Grundsteine. Erlebt ein Kind beispielsweise lösungsorientiertes Verhalten der Eltern in Auseinandersetzungen, lernt es, dass es sich lohnt, für die eigene Meinung einzustehen oder Grenzen aufzuzeigen. Insofern sprechen wir hier von sehr gesunden Lernerfahrungen, indem im Kindesalter bereits verstanden wird, dass Beziehungen etwas sind, auf das man Einfluss nehmen kann.
Wenn diese Grundsteine im Elternhaus nicht gelegt werden: Kann man gesundes Streiten auch im Erwachsenenalter noch lernen?
Ja. Dabei ist vor allem für konfliktscheue Menschen wichtig, dass sie zunächst einen besseren Kontakt zu ihren Wünschen und Bedürfnissen bekommen. Denn konfliktscheue Menschen neigen dazu, gar nicht konkret zu wissen, was sie eigentlich wollen. In ihnen schwebt also häufig ein Jein-Gefühl. Sowohl konfliktscheue Menschen als auch solche, die im Streit zu Aggressionen neigen, sollten darüber hinaus feststellen, wo ihre Trigger liegen. Vor allem bei aggressiv agierenden Menschen geht es häufig um die Respektfrage und die Sorge, vom Gegenüber nicht ernst genommen zu werden. Auch hier lassen sich in der Regel lange rote Fäden zurück in die Kindheit finden – umso wichtiger ist hier der ehrliche Blick in die Vergangenheit, um Prägungen und innere Dämonen zu erkennen.
Über die Gesprächspartnerin
- Stefanie Stahl ist Psychologin und Autorin. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit in ihrer Praxis hat sie zahlreiche Ratgeber zur Selbsthilfe veröffentlicht. Ihr Sachbuch "Das Kind in dir muss Heimat finden" ist seit sieben Jahren "Spiegel"-Jahresbestseller und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
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