Psychische Krankheiten scheinen auf dem Vormarsch zu sein: Das jedenfalls geht aus dem aktuellen Barmer-Arztreport hervor. Demnach ist der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit einer entsprechenden Diagnose zwischen 2005 bis 2016 um 38 Prozent angestiegen. Blickt man auf das Thema Depressionen, beträgt der Anstieg in dieser Altersgruppe sogar 76 Prozent. Was steckt hinter diesen Zahlen?
Insgesamt sind laut dem Arztreport 1,9 Millionen junge Erwachsene in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht 25,8 Prozent der gesamten Altersgruppe. Diese Zahl klingt dramatisch. Womöglich ist aber gar nicht die Anzahl der psychischen Erkrankungen so stark angestiegen, sondern die Zahl der Diagnosen. Das heißt: Vielleicht haben gar nicht so viel mehr junge Menschen als früher eine Depression – sie gehen aber eher damit zum Arzt damit oder beginnen eine Psychotherapie.
Mehrere Erklärungen für den Anstieg denkbar
So sagt Professor Dr. Georg Schomerus von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universitätsmedizin Greifswald: "Epidemiologische Studien zeigen übereinstimmend, dass es in den letzten 20 Jahren keine wesentliche Zunahme an depressiven Symptomen gegeben hat. Trotzdem werden mehr Diagnosen gestellt." Dafür seien mehrere Erklärungen denkbar.
"Eine Möglichkeit ist, dass sich die Einstellungen zu psychischen Erkrankungen verbessert haben und die Diagnosen deshalb leichter akzeptiert werden", sagt Schomerus. Außerdem gebe es inzwischen in der Bevölkerung auch ein größeres Vertrauen in die professionellen Behandlungsmethoden von psychischen Krankheiten.
Belastungen könnten sich stärker auswirken
Noch weitere Ursachen sind möglich. Vermutlich treffen die Erklärungen alle zum Teil zu", sagt Schomerus. Denkbar ist beispielsweise auch, dass nicht die Krankheitssymptome, wohl aber die Belastungen insgesamt zugenommen haben.
"Wenn der Druck steigt, dann bekommen auch weniger starke Symptome schneller Krankheitswert, weil die Betroffenen nicht mehr wie gewünscht funktionieren", sagt Schomerus. Eine psychische Erkrankung, mit der man früher womöglich noch seinen Job ausgeübt hätte, wirkt sich heute durch höhere Anforderungen bei der Arbeit vermutlich stärker aus.
Das lasse sich beispielsweise bei den Erwerbsminderungsrenten beobachten, sagt Schomerus. Diese werden immer häufiger aufgrund von psychischen Krankheiten bewilligt", so der Experte
Hier ist auch vorstellbar, dass sich durch Personalabbau und Leistungsverdichtung der Druck auf Arbeitnehmer mit psychischen Krankheiten so stark erhöht, dass sie eher in die Rente gedrängt werden."
Studierende sind seltener betroffen
Blickt man im Barmer-Arztreport auf die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen, so fällt auf, dass Studierende seltener von Diagnosen psychischer Erkrankungen betroffen sind als Nicht-Studierende (17 Prozent gegenüber einem Gesamtwert von 25,8 Prozent). Warum das so ist, geht aus dem Arztreport nicht eindeutig hervor.
So sagt Kevin Haenel, Pressesprecher der Barmer: Über Ursachen könnten wir als Krankenkassen nur spekulieren. Uns liegen lediglich Daten über die Diagnosen, nicht aber über die Ursachen vor."
Es könnte laut Arztreport aber mit hineinspielen, dass Studierende schlicht seltener zum Arzt gehen, da sie keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen benötigen, wenn sie krank sind. Dadurch werden bei ihnen womöglich seltener Diagnosen für psychische Erkrankungen gestellt.
Psychisch Erkrankte studieren seltener
Eine weitere Beobachtung ist laut Haenel, dass psychische Erkrankungen sich häufig schon im jüngeren Alter entwickeln würden – also bereits vor einem möglichen Studium bestehen. "Die Störung könnte die Chance für die spätere Aufnahme eines Studiums reduzieren", sagt Haenel. Das jedenfalls geht auch aus dem Arztreport hervor, der diesen Zusammenhang untersucht hat.
Ohnehin, so sagt Experte Schomerus, sei das Vorliegend depressiver Symptome stark mit der wirtschaftlichen Lage der Betroffenen assoziiert. Je niedriger der sozioökonomische Status sei, desto häufiger hätten Menschen unabhängig vom Alter depressive Symptome: "Sozial benachteiligte Erwachsene werden also häufiger psychisch krank."
Mit Betroffenen über die Symptome sprechen
Was aber kann man tun, wenn man selbst oder ein Bekannter psychisch erkrankt? "Die Frage, ob jemand nur gestresst und niedergeschlagen oder bereits krank ist, ist für die Betroffenen selbst meist genauso schwer zu beantworten wie für ihr Umfeld", sagt Haenel. "Kollegen, Freunde und Verwandte sollten stets ein offenes Ohr haben", rät er.
Wichtig sei darüber hinaus, Betroffenen auf Augenhöhe zu begegnen, sie ernst zu nehmen und sie zu ermutigen, über ihre Sorgen zu reden, sagt Haenel.
Die Grenze dessen, was gesund sei und was als krank definiert werde, sei fließend. "Deshalb sollten Betroffene im Zweifel mit einem Arzt oder einer Ärztin frühzeitig abklären, ob eine fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung notwendig ist."
Die meisten depressiven Verstimmungen seien gut und schnell behandelbar – bevor sie einen chronischen Verlauf nähmen. Je früher man also eine Behandlung beginnt, desto besser und schneller kann sie wirken.
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