- In der Pandemie tritt bei mehr Menschen Tinnitus auf oder bestehende Ohrgeräusche verstärken sich.
- Eine Expertin führt das auf zunehmenden Stress zurück.
Rauschen, Piepen oder Pfeifen: Viele Menschen kennen Ohrgeräusche. Meist hören sie schnell wieder auf, bei manchen Menschen bleiben sie jedoch bestehen. Man spricht dann von einem Tinnitus – das ist der medizinische Fachausdruck für Geräusche im Ohr.
"Ohrgeräusche jeglicher Art sind meist Ausdruck von Stress", sagt Dr. Bernadette Talartschik von der Schön Klinik Bad Arolsen, die dort den HNO-Bereich leitet. Die Geräusche könnten durch Stress getriggert, ausgelöst oder verstärkt werden.
Viele Menschen erleben die Situation als stressig
Die Ärztin hat bei sich in der Klinik eine deutliche Zunahme von Patienten beobachtet, die unter einem schwer belastenden Tinnitus leiden. "Quälende Ohrgeräusche sind oft Ausdruck der vielseitigen Belastungen infolge von COVID-19", sagt die Expertin.
Viele Menschen erleben die aktuelle Situation in der Pandemie als belastend: Sie arbeiten im Homeoffice, vermissen soziale Kontakte, leisten womöglich nebenbei noch Homeschooling – und sorgen sich um ihre Angehörigen und wegen der Gesamtsituation.
Talartschik sagt: "Der eskalierende Druck kommt schließlich im wahrsten Sinne des Wortes als Tinnitus zu den Ohren heraus."
Studie weist auf gestiegene Belastung hin
Laut Tinnitus-Liga waren zuletzt rund vier Millionen Deutsche von einem chronischen Tinnitus betroffen, also einem Tinnitus, der seit mehr als drei Monaten besteht. Etwa zehn Millionen Menschen leiden jährlich neu unter Tinnitus, daraus entwickelt sich pro Jahr bei etwa 250.000 Menschen ein chronischer Tinnitus.
Es gibt Hinweise darauf, dass die Corona-Pandemie die Situation aktuell verschärft. So hat nicht nur Dr. Talartschik eine Zunahme von Patienten erlebt, auch eine Studie der Universität Oxford stützt diese Beobachtung.
Tinnitus verschlimmerte sich
Für die Studie wurden Daten von 3.103 Menschen aus 48 Ländern ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass sich bei 40 Prozent der Menschen, die unter den Folgen der Pandemie litten, auch deren Tinnitus verschlimmert hatte. Sieben Personen gaben an, dass eine Infektion mit COVID-19 bei ihnen einen Tinnitus ausgelöst hatte.
Besonders stark litten dabei diejenigen darunter, die angaben, sich wegen der Corona-Situation selbst zu isolieren. Sie beschrieben, sich einsam zu fühlen, schlecht zu schlafen und sich weniger zu bewegen.
Dadurch fühlten sie sich verstärkt depressiv und ängstlich, manchmal kamen auch noch Geldsorgen hinzu.
Pandemie verstärkt die Beschwerden
Für Dr. Talartschik sind diese Ergebnisse wenig überraschend. Sie geht davon aus, dass die Stressbelastung durch COVID-19 ursächlich für die Zunahme der Beschwerden ist.
"Häufig werden diese Zusammenhänge nicht nur von den betroffenen Patienten selbst beobachtet. Sie sind auch Ergebnis von Studien und Erkenntnisse täglicher Untersuchungen behandelnder Ärzte und Therapeuten."
Ob Sars-CoV-2 als Virus direkt einen Tinnitus auslösen kann, ist bislang nicht bekannt. "Es gibt keine gesicherten, evidenzbasierten Hinweise darauf, dass das Virus selbst als schädigender Faktor kausal die Tinnitusentstehung verursachen kann, weder direkt noch immunologisch vermittelt", sagt die Ärztin.
Bei Tinnitus immer zum HNO-Arzt
Was sollte man tun, wenn man jetzt in der Pandemie erstmals unter einem Tinnitus leidet? "Tinnitus ist ein Symptom, das viele Ursachen haben kann", sagt die Expertin. "Deshalb sollte immer eine HNO-ärztliche Abklärung erfolgen. Das ist in Pandemiezeiten nicht anders als sonst."
Auch wenn man darunter leidet, dass sich ein vorhandener Tinnitus verstärkt, sollte man zum Arzt gehen, um sich beraten zu lassen. "Das ist wichtig, damit kein Teufelskreis aus sich gegenseitig verstärkenden Ängsten und Beschwerden entsteht", sagt die Ärztin.
Individuelle Behandlung ist sinnvoll
Wie ein Tinnitus behandelt wird, kann ganz unterschiedlich aussehen. Viele Menschen, die lange unter Ohrgeräuschen leiden, hören außerdem auch schlechter. In dem Fall kann es sinnvoll sein, ein Hörgerät zu tragen: Es kann vom Tinnitus ablenken, da man auch andere Geräusche wieder stärker wahrnimmt.
Hat man einen chronischen Tinnitus, unter dem man stark leidet, kommen häufig auch Ängste, Schlafstörungen und Depressionen hinzu. In dem Fall bietet sich ein komplexes Therapiekonzept an, das nicht nur Entspannung umfasst, sondern auch Ängste und Depressionen behandelt und beispielsweise auch Hörtherapie und Physiotherapie umfasst.
Selbst zur Vorbeugung beitragen
Jeder kann in der aktuellen Situation etwas dazu beitragen, einem Tinnitus vorzubeugen. Normalerweise gehört dazu zu vermeiden, was als Risiko gilt - vor allem Lärm in Diskotheken, auf Konzerten und am Arbeitsplatz. Insbesondere der Freizeitlärm spielt aktuell aber fast gar keine Rolle mehr.
Dafür nimmt die Bedeutung von verschiedenen Stressfaktoren in der Pandemie zu. "Deshalb sollte es jetzt darum gehen, diesen Stress so weit wie möglich zu reduzieren", sagt die Expertin. Ziel sollte es sein, einen Ausgleich zu schaffen und die eigene Widerstandskraft zu stärken.
Dabei hilft laut Talartschik zum einen eine ausgewogene Ernährung. "Auch Entspannung jeglicher Art ist sehr wichtig", sagt sie. "Das kann Yoga, progressive Muskelrelaxation, autogenes Training, Ausdrucksmalen, Musik und vieles mehr sein."
Wichtig sei auch, mit anderen in Kontakt zu bleiben, beispielsweise durch Telefonate oder Treffen per Video.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Bernadette Talartschik, Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Leitende Ärztin der Psychosomatik und Psychotherapie der Schön Klinik Bad Arolsen
- Deutsche Tinnitus-Liga: Ohrgeräusche, Ohrensausen oder Ohrenklingeln: Was ist Tinnitus?
- Eldré W. Beukes et. al.: Changes in Tinnitus Experiences During the COVID-19 Pandemic, Frontiers in Public Health, November 2020
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