• Nach ihrem vielbeachteten ersten Buch "Lieb und Teuer", in dem sie über ihre Zeit als Sexarbeiterin schreibt, hat Ilan Stephani ein weiteres Buch veröffentlicht.
  • In "Finde deine sexuelle Kraft" geht es darum, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu lösen und sich auf die ganz individuelle Lust einzulassen.
  • Ilan Stephani im Gespräch über sexuellen Stress und warum man erst guten Sex mit sich selbst haben muss, bevor man ihn mit anderen haben kann.
Ein Interview

In Ihrem Buch schreiben Sie von einer sexuellen Matrix, in der die meisten Menschen gefangen sind. Heißt das, dass wir alle schlechten Sex haben?

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Ilan Stephani: Provokant gesagt: ja. Wenn wir alle wüssten, wie sich Sex glücklich, gut, frei und nährend anfühlt, würden wir mit diesem neuen Wissen auf unser jetziges Liebesleben blicken und sagen: "Hey, das mag gestern gut gewesen sein. Verglichen mit dem, was ich heute weiß, war es schlecht." Ich will niemandem das eigene Sexleben schlechtreden, aber ich glaube, für wirklich alle Menschen ist in dieser Sache Luft nach oben. Sex ist etwas sehr Kreatives, Spielfreudiges, das sich ungern wiederholt. Was wir aber gelernt haben, ist Schema F: der gleiche Ablauf, das gleiche Erleben, Genitalien stecken sich ineinander, bewegen sich, einer oder beide haben einen Orgasmus. Das ist der einzige Ablauf und in unserer Kultur setzen wir einen Haken daran: Das ist echter Sex.

Wieso haben wir dieses Schema F Ihrer Meinung nach verinnerlicht?

An dieser Stelle könnte man natürlich tief in die Kulturgeschichte einsteigen. Ich denke aber auch: Je mehr wir medial vernetzt sind und uns vergleichen, desto mehr neigen wir dazu, bereits ab einem frühen Alter Medien und Bildern ausgesetzt zu sein. Man versucht sich passend zu machen, für die die Umgebung, die Herde, die anderen Menschen. Dadurch gleicht man sich äußerlich und innerlich an – das halte ich beim Thema Sex für sehr ungünstig. Wir sollten uns stattdessen mehr daran orientieren: Was spüre ich, fühlt es sich gut an?

Was ist daran problematisch - und wie kann man sich aus diesem Muster lösen?

Das Problem ist, dass wir eine Norm der Außenwelt unserer Innenwelt überstülpen, wenn wir Sex haben. Es gibt Menschen, die sich tatsächlich falsch fühlen, weil sie sexuell anders funktionieren. Was jede und jeder tun kann: sich bewusst machen, wo Sex zu Stress führt. Etwa wenn ich die Größe meines Penis mit der meines besten Freundes vergleiche. Oder wie schnell meine beste Freundin zum Orgasmus kommt und wie lange ich brauche. In meinem Buch und mit meiner Arbeit möchte ich Alternativen zur Norm zeigen und eine Selbstwertschätzung für sexuelle Individualität wachrufen.

Wie könnte das konkret aussehen?

Das kann man sich konkret verstellen: Statt eines klassischen Vorspiels stellen sich zwei Menschen, nennen wir sie Adam und Eva, in ihrem Schlafzimmer nackt nebeneinander und schütteln sich von Kopf bis Fuß – die Arme, Beine, den ganzen Körper. So kann man sich im Sex aufeinander und auf das, was Spaß macht, konzentrieren.

Sie sprechen von einem echten Schütteln - keinem metaphorischen. Im Buch beschreiben Sie auch eine Vorspiel-Übung, bei der man "wie ein Drache" Fratzen ziehend im Raum herumspringen soll – nicht unbedingt massentauglich.

Stellen Sie sich extrem guten Sex vor - in diesem Moment achten Sie nicht darauf, ob das Make-up oder die Frisur gut sitzt. Darauf will ich hinaus. Das Problem, das die meisten haben: Wir sind zu viel im Kopf, zu wenig im Körper. Wenn wir es bereits vor dem Sex schaffen, uns nicht mehr im Funktioniermodus wie im Büroalltag zu verhalten, sondern die Masken fallen zu lassen und wild und ausgelassen zu sein, dann fällt es uns im Sex viel leichter, ekstatisch zu werden. Der Fehler ist zu denken, sexuelle Themen sind sexuell. Sie sind es nicht. Sex spiegelt, wie wir insgesamt mit unserer Lebensenergie umgehen. Sex ist also kein Spezialthema. Sex verbessert sich, wenn das sonstige Leben auch lebendiger wird.

Schütteln mag für die einen funktionieren. Was empfehlen Sie den anderen?

Eine kurze, feste Kopfmassage hilft immer dabei, die Gedanken loszulassen. Ein bisschen gähnen, sich räkeln und strecken – etwa drei bis fünf Minuten. Mit Nachdruck und Achtsamkeit.

Im Hauptteil Ihres Buches benennen Sie verschiedene sexuelle Elemente. Was verstehen Sie darunter?

Es geht um die Frage: Was bringt die unterschiedlichen Typen zu gutem Sex. Wir sind alle individuell und nicht nur ein Typ, wir sind häufig in einem Element am meisten zu Hause, wir tragen Aspekte von allem in uns.

  • Für Feuermenschen funktioniert das, was wir in dieser Kultur als Sex definieren, sehr gut: sexuelle Feuermenschen lieben Genitalien, kommen leicht zum Orgasmus, haben oft Lust.
  • Für sexuelle Erdmenschen entsteht Begehren durch Vertrauen, schnell auf Tinder ist nichts für sie.
  • Für sexuelle Wassermenschen ist das erregende Moment alles Sinnliche, man verführt sie am besten mit Ganzkörpermassagen und Schaumbädern. Wassermenschen brauchen auch eine Verbindung zum Sexpartner.
  • Luftmenschen sind die Hochsensiblen im Sex. Wenn etwas unausgesprochen ist oder eine Berührung zu grob ist, dann sind sie sofort weg. Sie haben oft weniger Lust auf Sex.

Zusätzlich gibt es zwei Flügelelemente:

  • Unter das Flügelelement der Erde fällt BDSM – eine sehr gesunde und intelligente Form, Lust und Ekstase zu erforschen und das in einem Raum der Erdelemente praktizieren. Das heißt, dass dabei Vertrautheit, Ehrlichkeit, Sicherheit im Kontakt eine tragende Rolle spielen.
  • Sexuelle Flügelmenschen der Luft kommen am leichtesten durch Fantasie in Ekstase – sie sind unfassbar schnell erregbar durch Fantasien. Der Nachteil ist, sie fantasieren häufig von Dingen, die in unserer Kultur als Tabu oder verwerflich angesehen werden. Dieser Typ verurteilt sich oft für das, was ihn erregt, statt zu sehen: Hey, das ist eine Fantasie, hier nimmt noch niemand schaden.

Feuer und Wasser, Luft und Erde – Heißt das, manche Menschen passen besser zueinander als andere?

Nein. Die gute Nachricht ist, es gibt keine sexuelle Inkompatibilität. Was es gibt: Man hat kein Verständnis füreinander und fühlt sich deshalb hilflos. Der eine will Sex, der andere nicht, am Ende haben beide keinen Sex und sind frustriert. Da kann es helfen, mit dem Menschen, der keinen Sex möchte, anders umzugehen.

Haben Sie ein Beispiel?

Sie kommt heim von der Arbeit, total gestresst und hat keine Lust auf Sex. Er ist auch gestresst und sagt: Sex ist das Beste, was wir jetzt tun könnten. Ein Wasser- und ein Feuer-Typ. Jetzt ist es wichtig, dass er ihr mit seiner Energie etwas gibt, wodurch sie aus dem Alltagsstress herauskommt. Bei Wassermenschen kann das etwa eine feste Rückenmassage sein oder ein gemeinsamer Tango im Wohnzimmer. Wenn der Mensch, der zu gestresst ist für Sex, Unterstützung und Berührung erfährt, sieht die Situation oft ganz anders aus. Die meisten Menschen haben nicht keine Lust auf Sex. Sie haben keine Lust auf den Sex, den sie in dieser Kultur kennengelernt haben: Von jetzt auf gleich, nackt, Genitalien ineinander. Für viele Menschen funktioniert das nicht als sexueller Ablauf. Aber wenn sie einen Ablauf und ein Vorspiel kennenlernen, das ihnen entspricht, haben sie richtig viel Lust.

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Was verstehen Sie unter sexueller Selbstverantwortung?

Wir haben gelernt: Ich habe schlechten oder gar keinen Sex, wenn mein Partner keinen Sex mit mir haben möchte. Ich kann aber ein sehr reiches Sexleben mit mir selbst haben. Ich werbe dafür, wieder mehr Sex mit sich selbst zu haben. Sich bewusst Zeit für sich selbst zu nehmen. Dann ist es viel leichter, mit anderen sexuelle Erfahrungen zu haben, die man wirklich machen möchte. Dabei lernt man auch: Wie funktioniert meine Sexualität, wenn ich nicht für meinen Partner oder meine Partnerin unter Leistungsdruck stehe?

Überspitzt gesagt: Ich muss erst einmal guten Sex mit mir selbst haben, bevor ich ihn mit anderen haben kann?

Ja, ganz genau so ist es (lacht).

Ihr erstes Buch "Lieb und teuer" von 2017, in dem Sie über Ihre Erfahrungen als Sexarbeiterin geschrieben haben, hat damals ein großes mediales Echo erzeugt. Was hat sich seitdem verändert, gesellschaftlich, aber auch bei Ihnen?

Ich glaube, es war an der Zeit, die Debatte über Prostitution tiefer und intelligenter aufzustellen. Bis dahin war sie in einer Opfer-Rhetorik. "Lieb und teuer" war mein Beitrag dazu, differenzierter über das Thema zu sprechen. Heute sehe ich, dass das Thema anders im Diskurs verankert ist. Allerdings bin ich der Linie treu geblieben, dass Menschen Individuen sind, und sexuelle Freiheit ist eine sehr kostbare Sache. Menschen suchen, indem sie in den Puff gehen. Sie suchen, wenn sie Fantasien haben. Das ist ein Ausdruck dessen, dass wir im Sex etwas suchen, was wir so in dieser Kultur nicht finden. Ich konnte dieses Buch nur schreiben, weil ich so viele unterschiedliche sexuelle Erfahrungen gemacht habe als Sexarbeiterin. Damals habe ich gesehen, dass alle Menschen auch in Sachen Sexualität Individuen sind, aber versuchen, sich anzupassen.

Sie haben in früheren Interviews davon gesprochen, dass Männer Sex oft als einzige Form kennen, um Berührung zu erfahren.

Ich glaube, viele Männer leiden unter dem Klischee, dass sie den ganzen Tag nur Sex haben wollen. Ich denke, Männer wollen vielleicht den ganzen Tag Kontakt haben. Und in vielen Fällen erlaubt man Männern Kontakt – oder Kontakt zu Frauen – gar nicht anders, als wenn er sexuell ist.

Abschließend eine eher philosophische Frage: Wenn es eine universelle Wahrheit über Sex gäbe, wie würde sie Ihrer Meinung nach lauten?

Sex ist ein Konstrukt. Sex gibt es nicht. Schau einfach, dass du dich so sehr spürst, wie du dich spüren kannst, so lebendig bist, wie du nur lebendig sein kannst. Dann schaltet sich alles von alleine frei.

Über die Autorin: Ilan Stephani ist Buchautorin und leitet unter anderem Kurse rund um die Themen Embodiment, Sexualität und Trauma.
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