Sie nehmen Sinnesreize und Emotionen deutlich stärker wahr als andere. Das macht den Alltag von hochsensiblen Menschen oft besonders anstrengend. Sie glauben, etwas stimme nicht mit ihnen. Dabei ist Studien zufolge jeder Fünfte von dem Phänomen Hochsensibilität betroffen. Doch was steckt dahinter? Und warum spüren manche Menschen wirklich mehr als andere?
"Jetzt stell dich doch nicht so an" oder "Sei doch nicht immer so empfindlich" – das sind Sätze, die manche Menschen öfter zu hören bekommen als andere. Sie wirken sensibler und dünnhäutiger als andere.
So auch die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron: 1987 empfahl ihr ein Arzt sogar, sich wegen ihrer "Überreaktionen" in psychologische Behandlung zu begeben.
Die konsultierte Therapeutin konnte jedoch keine krankhaften Auffälligkeiten bei Aron feststellen. Sie diagnostizierte: Die Patientin sei schlicht "hochsensibel" – und legte damit den Grundstein für Arons weitere Forschungen zum Thema Sensibilität, wie die Psychologin selbst im Interview mit der "Welt" berichtete.
20 Jahre, zahlreiche wissenschaftliche Studien, Untersuchungen und Buchveröffentlichungen später, gilt Elaine Aron als Wegbereiterin im Bereich der Hochsensibilität. Sie und andere Mediziner und Wissenschaftler auf diesem Gebiet sind sich mittlerweile einig: Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind von dem Phänomen betroffen.
Hochsensible Personen reagieren empfindlicher auf Gerüche und Geräusche, aber auch auf optische Eindrücke und klimatische Veränderungen wie Hitze oder Kälte. Sie haben eine geringere Stressresistenz oder Belastbarkeit. Auch innere Zustände wie Hunger und Schmerz spüren sie stärker.
Bestimmte Bereiche im Gehirn sind aktiver
"Die Gehirne von hochsensiblen Menschen filtern weniger Außenreize", erklärt Diplom-Psychologe Michael Thiel das Phänomen im Gespräch mit unserer Redaktion, "dadurch nehmen sie fast alles wahr."
Ihre Gehirne sind permanent reizüberflutet, weil alle Sinneskanäle immer geöffnet sind. Dabei können wichtige von unwichtigen Reizen schlechter unterschieden werden.
Ein typisches Beispiel dafür wäre der Einkauf im Supermarkt. Hochsensible Menschen nehmen nicht nur die Personen und die Vielzahl der verfügbaren Produkte um sie herum wahr, sondern auch die musikalische Untermalung durch das Radio, die Werbeunterbrechung, das Kindergeschrei.
Dazu kommen der Geruch der Fleischtheke, Farben und Lichter, die Gespräche der Menschen im nahen Umfeld und die viel zu engen Gänge, wo man sich dem Einkaufswagen durchdrängeln muss – und das alles auf einmal.
Konkret bedeutet das: Bei Hochsensiblen sind es mehr Reize, die die Sinne erreichen – und somit mehr Informationen, die letztendlich vom Gehirn verarbeitet werden müssen.
Claudia Schrader, Trainerin an der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement AFNB, erklärt uns das so: "Wenn Reize ausgelöst werden, reagieren bestimmte Bereiche vom Gehirn einer hochsensiblen Person aktiver als bei einer normalen."
Diese Hirnaktivitäten konnten mittlerweile in mehreren Studien mithilfe von Kernspintomografien nachgewiesen werden – unter anderem zuerst von Elaine Aron selbst und zuletzt 2016 in Forschungen an der psychologischen Fakultät der Vrije Universität in Brüssel.
Nicht verrückt, nur hochsensibel
Doch auch, wenn mittlerweile mehr zu dem Phänomen geforscht wird: Viele hochsensible Personen wissen nicht um ihre Hochsensibilität. "Oftmals haben Betroffene das Gefühl, sie wären 'nicht richtig' oder mit ihnen stimmt etwas nicht", sagt Thiel.
Allerdings ist Hochsensibilität keine Krankheit, sondern ein teils vererbtes Persönlichkeitsmerkmal. "Oftmals findet man es im direkten Familienkreis einer hochsensiblen Person wieder – also zum Beispiel bei Vater oder Mutter", weiß Michael Thiel.
Er bestätigt damit, was Elaine Aron bereits 1996 herausfand: In verschiedenen Tests reagierten 15 Prozent der Babys bereits direkt nach der Geburt intensiver und mit mehr Anzeichen von Unbehagen auf Außenreize (PDF).
Gleichzeitig konnte bei ihnen eine signifikante familiäre Häufung der Hochsensibilität erkannt werden.
2011 gingen chinesische Forscher den möglichen genetischen Ursachen durch die Analyse von Erbgut noch genauer auf den Grund. Dabei konnten sie nachweisen, dass bestimmte Gene mit der Überempfindlichkeit in Verbindung stehen.
Feine Wahrnehmung für Mitmenschen
Trotz allem hat die Hochsensibilität auch positive Seiten. Betroffene haben meist eine besonders hohe Auffassungsgabe und arbeiten sehr intuitiv und konzentriert – wenn sie nicht überreizt sind.
Logisches Denken fällt ihnen besonders leicht, viele sind sehr kreativ. Oft verfügen sie auch über eine gute Vorstellungskraft und einen starken Gerechtigkeitssinn.
"Viele Hochsensible sind besonders empfindlich gegenüber zwischenmenschlichen Signalen", so Thiel. Sie können sich außergewöhnlich gut in andere Menschen hineinversetzen, da ihr Einfühlungsvermögen besonders ausgeprägt ist. Sie sind empfänglich für die Gefühle anderer, das macht sie zu guten Zuhörern.
Abgrenzung fällt vielen schwer
Sind diese Gefühle allerdings negativ, kann das für den Hochsensiblen selbst zur Belastung werden. "Wenn man feine Antennen hat, ungefiltert die Gefühle der anderen aufnimmt und das nicht abschalten kann, ist man ständig in Alarmbereitschaft", sagt der Psychologe.
Für Hochsensible sei es deshalb besonders wichtig zu lernen, sich von seinem Umfeld abgrenzen zu können. "Das fällt vielen nämlich oft sehr schwer", meint Thiel. Sie würden die eigenen Bedürfnisse häufig denen anderer unterordnen.
Grundsätzlich sollten Betroffene lernen, ihrem Bedürfnis nach Rückzug Raum zu geben. Denn: Vor allem dauerhafter Stress führt bei Hochsensiblen leicht zu chronischer Überbeanspruchung und dadurch zu Symptomen wie Migräne oder Verdauungsbeschwerden.
Auf Dauer kann es zu Herz-Kreislauf-Problemen, Magengeschwüren, Depressionen sowie Angst-, Ess- oder Schlafstörungen kommen.
Wenn alles zu viel wird
Um diesen vorzubeugen, bieten sich Strategien zur Stressbewältigung an. "Für das hocherregbare Nervensystem von Hochsensiblen ist es extrem wichtig, zwischendurch abschalten zu können", so Claudia Schrader.
Dazu empfiehlt sie Achtsamkeitsübungen. Aber auch Yoga, Meditation oder eine Betätigung, die einen auf sich selbst fokussieren lässt, wie etwa ein Spaziergang in der Natur, helfen.
Wenn das Gefühl der Überforderung und Erschöpfung allerdings zu stark wird, raten die Experten dazu, sich professionelle Unterstützung zu holen. Dabei würden Betroffene lernen, mit den Besonderheiten, die sie auszeichnet, besser umzugehen.
Für Betroffene und Interessierte hat Elaine Aron außerdem einen psychologischen Fragebogen zum Selbsttest entwickelt, der auf ihrer Website abrufbar ist. Weitere Infos finden Sie unter hsperson.com.
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