Ein kurzer Schwindel nach einer Boots- oder Flugreise ist keine Seltenheit. Vor allem, wenn sie turbulent oder anstrengend war. Doch was, wenn die Beschwerden nicht weggehen? Ein oft unerkanntes Syndrom könnte dahinter stecken.
Drehschwindel, Schwankschwindel, Lagerungsschwindel, stressbedingter Schwindel oder vestibuläre Migräne – es gibt zahlreiche Formen von Schwindel. Ebenso facettenreich sind die Ursachen. Während bei einigen Formen wie Lagerungsschwindel verschobene Kristalle im Innenohr das Gleichgewicht stören, können hinter Kreislaufschwindel ein plötzlicher Blutdruckabfall oder Herzrhythmusstörungen stecken.
Doch auch psychische Belastungen können Schwindelattacken auslösen, die oft mit Stand- oder Gangunsicherheit einhergehen. Ist der emotional belastende Konflikt gelöst, klingen auch die Beschwerden umgehend ab.
Ärztlich abgeklärt werden sollte Schwindel vor allem dann, wenn parallel Begleiterscheinungen wie Sehstörungen, Sprachstörungen, Taubheitsgefühl, Schwäche, Tinnitus, Übelkeit oder Lähmungen auftreten. Diese können auf ernsthafte Erkrankungen hinweisen.
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Gleiches gilt, wenn der Schwindel plötzlich und heftig ohne erkennbare Ursache auftritt oder längere Zeit anhält – vielleicht auch nach einer Reise mit Schiff, Bahn oder Flugzeug. Dann könnte ein oft unerkanntes Syndrom hinter dem Schwindel stecken – das Mal-de-Débarquement-Syndrom, kurz MdDS.
Was ist das Mal-de-Débarquement-Syndrom?
Viele kennen es: Nach einer längeren Bootsfahrt oder einer turbulenten Flugreise fühlen sich die ersten Schritte an Land unsicher an. Auch ein Schwindelgefühl kann auftreten, das in den meisten Fällen schnell wieder nachlässt. In einigen Fällen hält der Schwindel aber länger an.
Die Symptome der einfachen Landkrankheit gleichen mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen der Seekrankheit, treten jedoch erst beim Landgang auf. In der Regel ist der Spuk nach 48 Stunden vorbei. Anders sieht es beim Mal-de-Débarquement-Syndrom aus.
Bei MdDS tritt kein klassischer Drehschwindel auf, sondern ein Schwankschwindel – ein Gefühl wie bei starkem Seegang. Daher auch der Name: "Mal" heißt auf Französisch "Krankheit", "Débarquement" kann mit "an Land gehen" übersetzt werden. Besonders unangenehm: Die Symptome können über mehrere Wochen oder Monate bis hin zu mehreren Jahren anhalten und im Alltag zu starken Einschränkungen oder sekundären Problemen wie Angst führen.
Besonders intensiv macht sich der Schwankschwindel beim Stehen oder Gehen bemerkbar. Linderung hingegen tritt typischerweise in sitzender oder liegender Position oder bei passiver Bewegung wie Autofahren ein.
Mediziner: Deshalb bleibt MdDS bleibt oft unerkannt
Das Mal-de-Dèbarquement-Syndrom gilt als selten. Vermutlich auch, weil es oft unerkannt bleibt, sagt Thomas Weiss. In seiner Mannheimer Praxisklinik hat sich der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin auf die Behandlung von funktionellen Störungen wie Schwindel spezialisiert.
"Manchmal tritt MdDS direkt nach dem Verlassen eines Schiffs, Flugzeug oder Bahn auf. Dann ist es leicht, auf die Ursache zu schließen. Doch sehr häufig ist das nicht der Fall. Typisch ist, dass die Symptomatik am folgenden Morgen beim Aufstehen auftritt. Manchmal liegen auch zwei Nächte dazwischen. Da war dann die Rückfahrt mit dem Auto oder Flugzeug dazwischen und der eigentliche Auslöser wird übersehen", sagt der Mediziner.
Neben Schwankschwindel in verschiedene Richtungen können auch weitere Beschwerden auftreten. "Im überwiegenden Anteil leiden die Betroffenen gleichzeitig unter Erschöpfung, Benommenheit, Konzentrationsstörungen und Abgeschlagenheit – gelegentlich auch leichte Übelkeit. Auch wenn diese Beschwerden gemeinsam vorkommen, steckt eine zweite Ursache dahinter. Dies ist ein Benommenheitsschwindel, der sich auf eine funktionelle Durchblutungsstörung im Gehirn zurückführen lässt. Diese wiederum hängt mit einer Veränderung der Atmung zusammen, die als Folge der Angst zu beobachten ist", so Weiss.
Ursachen für das Mal-de-Débarquement-Syndrom
Die genaue Ursache für MdDS lässt sich noch nicht abschließend wissenschaftlich erklären. Vermutlich löst eine Fehlanpassung des Gehirns die Beschwerden aus. Normalerweise sorgt ein ausgeklügeltes Gleichgewichtssystem für Stabilität, wenn wir uns bewegen: Augen, Gleichgewichtsorgan, Muskeln und die zentrale Reizverarbeitung arbeiten so zusammen, dass die Umwelt trotz Bewegung als stabil wahrgenommen wird.
Beim Mal-de-Débarquement-Syndrom bleibt das Gehirn vermutlich in diesem Ausgleichsmodus, wenn zuvor länger schwankende Bewegungen ausgeglichen werden mussten – etwa während einer Schiffsfahrt oder einer Flugreise. Es wird davon ausgegangen, dass Betroffene deshalb Linderung verspüren, sobald sie sich erneut passiv bewegen.
Schwindelgefühl nach einer Reise – zu welchem Arzt?
Schwindeltherapie-Experte Weiss rät, bei anhaltenden Beschwerden eine Schwindelambulanz aufzusuchen oder bei einem HNO-Arzt oder Neurologen vorstellig zu werden. "Die Diagnose ist eigentlich einfach, sofern im ärztlichen Umfeld an die Krankheit gedacht wird, was nicht immer der Fall ist. Typisch ist die Vorgeschichte, also Bahn-, Autofahrt, Schiffsreise und die Besserung im Auto, Zug oder auf dem Schiff. Der organische Befund ist unauffällig", so Thomas Weiss. Doch ab wann sollten die Beschwerden medizinisch abgeklärt werden?
"Ein leichtes Gefühl der Unsicherheit oder Schwanken bis zu 24 Stunden nach einer Bootstour können als normal angesehen werden. Meist dauert das kürzer. Wenn ein MdDS sich etabliert hat, kann es sich nach Wochen oder Monaten spontan auflösen. Leider ist das nicht immer der Fall. Es kann auch viele Jahre unverändert weiter bestehen. Ungünstig wirken Überdiagnostik, Übertherapie wie Manipulationen der Halswirbelsäule, wechselnde naturheilkundliche Therapien, hoch dosierte Antidepressiva und ängstliche Selbstbeobachtung."
Kontraproduktiv sei auch die Einnahme von Medikamenten gegen Reiseübelkeit. "Häufig werden Antihistaminika, beziehungsweise Mittel gegen Reisekrankheit gegeben. Doch das ist sinnlos. Sie machen lediglich müde. Gegen die innere Anspannung und Angst können gegebenenfalls in sehr niedriger Dosis Antidepressiva begleitend eingesetzt werden. Doch das hilft nicht gegen den Schwankschwindel selbst, sondern erzeugt nur eine gewisse Distanzierung vom Schwindel", so Weiss.
MdDS-Therapie – schwindelfrei durch gezielte Übungen
Um die Beschwerden loszuwerden, muss das Gehirn lernen, die Ausgleichsbewegungen zurückzusetzen. Dafür müssen zwischen dem optisch gewonnenen Umwelteindruck und der Bewegungswahrnehmung neue Verknüpfungen hergestellt werden, indem verschiedene visuelle und körperliche Übungen über einen Zeitraum von etwa ein bis zwei Wochen durchgeführt werden.
In der Praxis von Thomas Weiss haben sich begleitende Physio- und Atemtherapie als wirksam erwiesen. Die Übungen müssen Betroffene auch zu Hause praktizieren. Die gute Nachricht: Die überwiegende Mehrheit seiner Patienten würde durch die Therapie wieder völlig schwindelfrei oder ihre Beschwerden würden deutlich gelindert.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Thomas Weiss ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin und betreibt in Mannheim eine Praxisklinik für funktionelle Störungen. Es ist eine der wenigen Adressen, an denen MdDS behandelt wird.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Dr. med. Thomas Weiss
- Mddsfoundation: Mit MdDS fühlen Sie sich immer noch auf dem Boot
- HNO-Ärzte im Netz: Schwindel - die häufigsten Formen
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