Sich um seine Mitmenschen zu sorgen, ist wichtig für unsere Gesellschaft. Warum man dabei nicht in Mitleid verfallen sollte, erklärt Psychiater Dr. Nils Bindeballe im Interview.
Wenn wir andere Menschen leiden sehen, empfinden wir oft starke Emotionen, die uns dazu bewegen, zu handeln oder mitzufühlen. Besonders in einer Zeit, in der es täglich neue Schreckensmeldungen gibt, setzt die Anteilnahme am Leid anderer vielen auch aus der Ferne mental zu und löst Emotionen wie Mitgefühl oder Mitleid aus. Doch hier muss man differenzieren: Denn beide Formen der Anteilnahme unterscheiden sich und wirken sich auf den Fühlenden unterschiedlich aus.
Dr. med. Nils Bindeballe, Chefarzt der Oberberg Fachklinik Potsdam und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news, wie genau sich die beiden Emotionen unterscheiden, was sie mit uns machen können und wie wir uns selbst schützen können.
Wie genau unterscheiden sich Mitleid und Mitgefühl?
Dr. Nils Bindeballe: Beides sind im Menschen angelegte Fähigkeiten, die oft unterschiedlich stark entwickelt sind.
Mitleid meint: Wir leiden selbst auch, empfinden das Leid selbst. Da wir aber ja selbst nicht in der Situation der anderen Person sind, verbinden wir uns stattdessen emotional sehr stark. Dabei ist es möglich, dass die negativen Gefühle uns sehr belasten oder auch überwältigen können.
Positiv an Mitleid ist, dass erst einmal Hilfeleistung aktiviert werden kann, die unter Umständen gebraucht wird. Schwieriger wird es bei Situationen, die nicht veränderbar sind oder bei Mitleid, das durch unsere eigene Erwartung, wie es uns selbst in der Situation gehen würde, geprägt ist. Wir bewerten also solche Situationen oft beeinflusst durch eigene Ängste oder Nicht-Annehmen-können. So hat das Mitleid auch viel mit uns selbst zu tun. Gleichzeitig wird die andere Person bedauert und ein wenig auf eine bestimmte Rolle eingeengt, die von Hilf- und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Wir setzen uns dabei weder in einer offenen Weise mit der anderen Person und ihren Möglichkeiten noch mit den Ursachen unserer eigenen Reaktion auseinander.
Mitgefühl bedeutet: Wir können uns in eine andere Person hineinversetzen - also wir verstehen, wie es ihr geht, ohne dass wir selbst dieses Gefühl haben müssen. Dabei kann es dann um jedes mögliche Gefühl gehen, also auch um positive Gefühle.
Da es nicht um uns geht, um unser Leben und unsere Situation, und uns dies vielleicht sogar ganz bewusst ist, wahren wir eine Balance, einen gewissen emotionalen Abstand. Hier spielt auch das Erkennen eigener Gefühle eine Rolle. So können wir bei gleichzeitiger Anteilnahme aktiver bleiben, angemessen reagieren und Unterstützung anbieten, die sich auf einer gleichberechtigten Ebene abspielt.
Wie erkennt man, ob man in einer Situation eher Mitgefühl oder Mitleid empfindet?
Dr. Bindeballe: Mitleid könnte verbunden sein mit dem starken Wunsch, die andere Person aus einer schlimmen Lage zu befreien. Vielleicht erkennt man auch, dass man sich vorstellt, wie man selbst auf diese Situation reagieren würde - wahrscheinlich geprägt von Ängsten, Abwehr, Überforderung, eigener Hilflosigkeit.
Mitgefühl würde sich eher ausdrücken in einer annehmenden Haltung gegenüber Tatsachen, die man nicht verändern kann, und damit verbunden, eher die andere Person trösten zu wollen und ihr Güte und Geduld entgegenzubringen. Und der Möglichkeit, sich von eigenen Gefühlen und Gedanken dazu auch wieder lösen zu können.
Sie sagen, aus Mitleid kann eigenes Leid entstehen. Wie genau kann sich Mitleid auf unsere Psyche auswirken?
Dr. Bindeballe: Wenn man sehr negative Gefühle ohne Distanz immer wieder mitfühlt, erlebt man ja Verzweiflung, Schmerzen, Trauer, Verluste, Enttäuschungen, Ängste als eigene Zustände. Gleichzeitig kann sich so das eigene Empfinden von Hilflosigkeit oder Unzulänglichkeit immer weiter verstärken. Wenn unveränderbare Krankheiten, bevorstehender Tod oder anderes dann als "schlimm" oder "ungerecht" bewertet werden, und man sich oft in Gedanken damit beschäftigt, die Situation solle nicht so sein (wie sie eben ist), hat man weniger Zugang zu positivem Verhalten. Bei einigen Menschen können sich so Erschöpfungszustände, ein Gefühl von Ausgebrannt-sein oder sogar psychische Erkrankungen entwickeln.
Wie können wir uns vor dem Gefühl von Mitleid schützen?
Dr. Bindeballe: Wir sollten nicht aufhören, uns um andere Menschen zu kümmern und auch mit ihnen mitzufühlen. Allerdings könnten wir darauf achten, nicht in eine passive Haltung hineinzugeraten, indem wir uns von negativen Gefühlen bestimmen lassen. Wir könnten uns regelmäßig fragen, ob unsere Bewertungen ("Das muss fürchterlich sein...") uns stark beeinflussen. Wir könnten darauf achten, die andere Person auf Augenhöhe zu behandeln und sie nicht auf eine eingeengte Perspektive festzulegen.
Wie können besonders Menschen in Pflegeberufen bzw. Angehörige von schwerkranken Menschen lernen, Mitgefühl zu zeigen, ohne in Mitleid zu verfallen?
Dr. Bindeballe: Dadurch, dass diese Personen oft ununterbrochen die Versorgung von schwerkranken Menschen leisten oder durch ihren Beruf diese Belastung nicht selbst beeinflussen können, ist dies oftmals schwer. Dennoch wäre es günstig, die Verantwortung nicht allein zu tragen, sondern sich unterstützen zu lassen. Auch sollte es stets noch eine andere Rolle im eigenen Leben geben, in der sich andere Interessen verwirklichen lassen.
Die psychologische Wissenschaft geht davon aus, dass Mitgefühl durch liebevolle Zuwendung, die einem zuteilwird, gefördert wird. Es ist ebenso möglich und hilfreich, Selbstmitgefühl zu erlernen. Ein bekanntes Beispiel ist die Liebende-Güte-Meditation, bei der man sich selbst und anderen Gutes wünscht.
Entwickeln wir Mitgefühl öfter gegenüber Menschen, die uns nahestehen als gegenüber Fremden?
Dr. Bindeballe: Zunächst einmal scheint es naheliegend, dass wir leichter gegenüber uns nahestehenden Menschen Mitgefühl entwickeln. Da es dabei aber um eine prinzipielle und auch für uns selbst hilfreiche Haltung geht, können wir auch gegenüber fremden Personen Mitgefühl empfinden.
Vielen Menschen fällt es schwer, die Zeitung wegzulegen oder die sozialen Medien abzuschalten, wenn gerade viel Schreckliches in der Welt passiert. Haben Sie hier praktische Tipps, wie es gelingen kann, einen gesunden Abstand zu wahren, ohne dabei gleichgültig zu werden?
Dr. Bindeballe: Die Konfrontation mit großem Leid, das zum Teil fern von uns geschieht, aber durch Bilder sehr präsent wird, überfordert uns. Zu allen diesen Zuständen jeweils eine hilfreiche, balancierte Haltung zu entwickeln, ist kaum möglich, jedenfalls nicht für jeden Einzelfall.
Möglicherweise kann es hilfreich sein, regelmäßig (zum Beispiel einmal täglich) eine bewusste Entscheidung zu treffen, ob und welche Nachrichten ich sehen möchte. Zudem den eigenen Medienkonsum so steuern, dass die Inhalte weniger emotionalisierend sind (etwa bestimmte Radiosender oder Podcasts hören), regelmäßig überprüfen, welche Nachrichten etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben und sich überlegen, wo im eigenen Umfeld Möglichkeiten bestehen, zum Beispiel etwas Hilfreiches für andere zu tun. (ncz/spot) © spot on news
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