Frankfurt/Main (dpa) - Von wegen stille Tage: "Familie gleicht heute einem komplexen Managementprozess", sagt eine Soziologin. Auch (oder gerade) zu Weihnachten. Ein Psychologe rät: Lehnt Euch zurück!
Petra ist alleinerziehend. Ihr Sohn Jörgen ist zehn. Die Bankerin arbeitet Vollzeit, im Gegensatz zu vielen Alleinerziehenden mit ihrem deutlich erhöhten Armutsrisiko hat die Minifamilie zumindest genug Geld. Woran es mangelt, ist Zeit. Petra geht so früh wie möglich ins Büro, damit sie nachmittags zeitig nach Hause kann. Jörgen ist täglich das erste Kind in der Frühbetreuung.
Nachmittags muss der Junge die Wege zum Klavierunterricht, zum Sport, zu Freunden alleine finden. Zwischen Büro und Wohnung hetzt Petra im Supermarkt vorbei, damit sie etwas Frisches kochen kann. Kein Wochenende vergeht ohne Wanderausflug, Kinderkonzert oder Fußballturnier. "Ich bin so wenig da", sagt die 49-Jährige, "wenn ich dann mal da bin, gebe ich mir Mühe. Das ist doch klar", sagt sie, wenn Freunde leise andeuten, dass sie doch recht gestresst sei und Jörgen auch nicht besonders ausgeglichen wirke.
Wenn Jörgen schläft, checkt Petra ihre Mails und vollendet, was im Büro liegen blieb. Jetzt, vor Weihnachten, ist es besonders schlimm. Zwar kommen nur die Großeltern, aber da muss die Wohnung geputzt sein, das Essen besonders aufwendig, der Tisch perfekt gedeckt, das Freizeitprogramm geplant, die Geschenke originell verpackt sein. "Plätzchen kaufen geht gar nicht. Die müssen auf jeden Fall selbst gebacken sein. Die Frage ist nur: wann?"
Die meisten Eltern fühlten sich zerrieben zwischen Ansprüchen, die Johanna Possinger vom Deutschen Jugendinstitut als "entgrenzt" bezeichnet: Forderungen des Arbeitgebers, Forderungen der Familie, die eigenen Anforderungen. Dazu trügen auch "unrealistische Leitbilder" á la Heidi Klum bei: "Vier Kinder, erfolgreich im Beruf und dann noch total sexy aussehen für den Partner". Die deutsche Durchschnittsfrau setze sogar noch eins drauf: Das alte Leitbild der fürsorglichen Mutter, die backt und mit Hausaufgaben macht, sei nämlich auch noch da in den Köpfen der Mütter.
"Familie gleicht heute einem komplexen Managementprozess", sagte die Leiterin der Fachgruppe Familienpolitik beim Deutschen Jugendinstitut kürzlich auf einer Tagung in Frankfurt: Wer holt die Kinder rechtzeitig ab, wer kauft ein und macht Essen, wer bringt die Kinder ins Bett, wenn einer Spätdienst hat - alles muss minuziös geplant werden. Das Konzept der "Quality Time" - wenig Zeit, aber die wird bewusst und sinnvoll genutzt - hält Possinger für Unsinn: Kinder wollten kuscheln, wenn ihnen nach kuscheln ist. Und nicht warten, bis die "Quality Time" beginnt.
Possingers Zustandsbericht der deutschen Familienwirklichkeit: "Alle haben ständig Sehnsucht nach einem unverplanten Sonntag." Zeit ist knapp, Zeit muss gespart werden. Und wenn man an der Familienzeit nicht sparen will, wo spart man dann? Umfragen zeigen: An der Zeit für sich selbst - etwa am Schlaf - und an der Zeit für die Partnerschaft.
Bei allem Verständnis für die Nöte der Eltern dürfe man "die Kinderperspektive nicht vergessen", sagt die Frankfurter Pädagogik-Professorin Maud Zitelmann. Wenn - wie viele es sich wünschen, um ihren Alltag leichter organisieren zu können - die Kita sieben Tage die Woche 24 Stunden geöffnet hätte, "dann kann keiner mehr sagen, ich kann nicht arbeiten, weil ich keine Betreuung habe. Ich kenne Kinder im bindungsrelevanten Alter, die zehn Stunden am Tag von mehrfach wechselnden Betreuungspersonen betreut werden".
Wenn - wie in der Vorweihnachtszeit durchaus möglich - zusätzliche Belastungen dazukommen, macht das die Lage nicht besser. Der Stress der Eltern übertrage sich auf die Kinder, sagt Prof. Arnold Lohaus, Entwicklungspsychologe an der Uni Bielefeld: entweder direkt, "indem sie die Eltern als Modell nehmen und sich ihr Stress bei den Kindern spiegelt", oder indirekt, "indem die Eltern durch den Stress ihr Verhalten ändern, zum Beispiel genervter reagieren und schneller aus der Haut fahren".
Die Folge: Auch die Kinder sind gereizter, was wiederum zu Stress bei den Eltern führt. Den Kreislauf durchbrechen können aber nur die Eltern, sagt Lohaus. "Sie müssen etwas an ihrem Stresserleben ändern." Am Ende würden die Kinder noch zum Stressbewältigungs-Kurs geschickt, "dabei müssen die Eltern den nehmen": Gerade in der Weihnachtszeit könne man sich Zeit für einander nehmen, gezielte Ruhepausen einlegen, mal lange ausschlafen. Im Alltag rät der Entwicklungspsychologe, "sich ein bisschen mehr zurückzulehnen".
Tipps für entspannte Festtage
1. Vorstellungen vorher ansprechen: Bevor es Zoff wegen der richtigen Weihnachtsbeleuchtung gibt, sollten sich Paare vorher über ihre Erwartungen an das Fest austauschen. Laut einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts Toluna sorgen enttäuschte Erwartungen am häufigsten für Krach (Frauen: 11 Prozent, Männer 6 Prozent). Außerdem sollte vorher klar sein, wer das Putzen, Kochen und Schmücken übernimmt. Sonst könnte sich einer bei der Verteilung der Aufgaben ungerecht behandelt fühlen - und darüber einen Streit vom Zaun brechen (Frauen: 8 Prozent, Männer: 6 Prozent).
2. Keine heile Welt vorgaukeln: Besonders schwer haben es Patchworkfamilien an Weihnachten. Oft beginnt das Gerangel, wer wo feiert, schon Wochen vor Heiligabend. Häufig ist es entspannter, wenn die Kinder den Weihnachtsabend bei dem Elternteil feiern, bei dem sie sonst auch überwiegend leben. Am ersten oder zweiten Weihnachtstag können sie dann zum Ex-Partner und dort noch einmal feiern, heißt es in der Zeitschrift "Kinder".
3. Nicht ungefragt Freunde einladen: Für die einen gehört Weihnachten ausschließlich der Familie. Andere sehen das lockerer und würden gerne ihre Freunde mit am Tisch sitzen haben. Wer den Partner damit überrumpelt, riskiert dicke Luft. Wichtig sei, miteinander über die jeweiligen Wünsche und Vorstellungen zu sprechen. Vor allem sollte man dem anderen erklären, warum einem der Freund so wichtig ist, erläutert Diplom-Psychologin Berit Brockhausen.
4. Heikle Themen aussparen:Jedes Jahr, wenn die Familie zusammensitzt, geht es um die gescheiterte Karriere des Sohns? Wer im Vorfeld schon weiß, welche Themen Zündstoff liefern, sollte sie vorher benennen. "Dann sagt man: Über diese Themen werde ich an Weihnachten nicht mit euch reden. Darüber können wir uns gern ein andermal streiten", rät Paartherapeut Jörg Wesner.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.