Sommerwelle, Long-Covid-Risiko und die Booster-Impfung: Was wir jetzt (noch) über Sars-CoV-2 und Covid wissen müssen – ein Corona-Update.

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"Covid19 ist nicht verschwunden, auch wenn es nicht mehr in den Nachrichten auftaucht", schrieb die US-amerikanische Epidemiologin Maria Van Kerkhove letzte Woche auf X.

Van Kerkhove leitet bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Abteilung für neue Infektionskrankheiten und Zoonosen. Die WHO arbeite weiterhin mit allen Ländern an der Überwachung und Risikobewertung der Varianten JN.1, KP.2, KP.3 und deren Auswirkungen.

In Deutschland steigen die Fallzahlen derzeit an, allerdings auf niedrigem Niveau. Steht eine Sommerwelle bevor oder sind wir schon mitten drin? Wie gefährlich ist Sars-CoV-2 noch, mehr als viereinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie? Wie hoch ist das Risiko für Long Covid oder Post Covid und was war nochmal mit der Booster-Impfung?

Die aktuelle Corona-Situation in Deutschland

"Seit letzter Woche wieder erstaunlich viele Patienten mit Covid-19-Infektionen in der Praxis", schreibt der Allgemeinmediziner Michael Gurr am 24. Juni 2024 auf X. Da kaum noch jemand einen Corona-Selbsttest mache, sei die Dunkelziffer entsprechend hoch, mutmaßt der Mediziner aus dem rheinland-pfälzischen Eisenberg.

Der ARE-Wochenbericht für die Zeit zwischen dem 24. und 30. Juni liefert ein paar handfeste Daten: "Die Zahl der an das RKI übermittelten Covid-19-Fälle ist in der 26. Meldewoche im Vergleich zur 25. MW weiter gestiegen", ist im Bericht zu lesen. Auch beim Abwassermonitoring verzeichnen die Behörden einen steigenden Trend "auf einem niedrigen Niveau".

Die Aktivität der akuten Atemwegserkrankungen ist in Deutschland im Vergleich zur Vorwoche leicht gesunken – sie liegt insgesamt bei etwa 4,2 Millionen Erkrankungen in der Bevölkerung. "Die Werte sind aktuell höher als in den meisten Vorsaisons um diese Jahreszeit", schreibt das RKI.

Die Covid-19-Inzidenz schätzen die Behörden auf rund 600 Erkrankungen je 100.000 Einwohner – tatsächlich gemeldet sind zurzeit 3,7 laborbestätigte Covid-19-Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner (Stand 3. Juli 2024). Zum Vergleich: Im letzten Winter lag die Inzidenz bei maximal 39,3 gemeldeten Fällen, am 24. März 2022, dem Höhepunkt, bei 1962 gemeldeten Fällen pro 100.000 Einwohnern.

Keine Sorge vor schwerer Sommerwelle

In der 24. Meldewoche hielten sich 550, in der 25. MW 882 und in der 26. MW 1.012 Patientinnen und Patienten mit oder wegen einer Sars-CoV-2-Infektion im Krankenhaus auf. Die Hinweise seien eindeutig, zitiert die "Berliner Morgenpost" den Intensivmediziner Christian Karagiannidis: "Es baut sich gerade eine Corona-Sommerwelle auf." Trotz der ansteigenden Zahl sei er aber entspannt. Es gebe aktuell keine schweren Fälle mehr, die Krankheitslast sei gering bei den aktuellen Varianten und der sehr guten Immunität der Bevölkerung.

In Deutschland dominiert jetzt die Omikron-Untervarianten KP.3 mit einem Anteil von 48 Prozent der Corona-Infektionen. Weltweit machen die Infektionen mit der Variante JN.1 noch knapp die Hälfte der Infektionen aus, KP.2 und KP.3, beides Ableger von JN.1, stellen jeweils rund ein Viertel.

Fachleute gehen davon aus, dass die JN.1-Abkömmlinge eine kleine neue Infektionswelle auslösen werden. Das Risiko, das von den neuen Varianten ausgeht, sei eher gering und fordere den Immunschutz der Bevölkerung nicht wirklich heraus. "Die Immunität wird halten und die Krankheit wird keine Gesundheitskrise verursachen", schreibt der Immunologe Marc Veldhoen angesichts ansteigender Corona-Abwasserwerte in den Niederlanden auf X.

Wie hoch ist das Risiko heute noch, akut schwer an Covid-19 zu erkranken?

Ob jemand heute schwer an einer akuten Corona-Infektion erkrankt, hängt entscheidend von seinen Abwehrkräften ab. Wenn es dem Immunsystem nicht gelinge, einen Erreger, ganz egal welches Virus, Bakterium oder Parasiten, rasch nach der Infektion, möglichst noch an der Eintrittspforte zu kontrollieren, werde er sich im Körper ausbreiten, schreibt Marc Veldhoen, der an der Medizinischen Universität in Lissabon an der Corona-Immunität forscht.

Ein Virus werde sich in all den Körpergeweben ausbreiten, die einen Rezeptor für das Virus tragen. Ursachen für ein geschwächtes Immunsystem gebe es mehrere: Medikamente, eine Vorerkrankung, ein genetischer Defekt, hohes Alter. Aber die Norm sei das nicht. Denn: "Unser Immunsystem ist da, um den Erreger einzudämmen." Das könne es nach einer Impfung oder Infektion besonders gut.

Dieser Effekt zeigt sich auch in diesen Zahlen: In einer US-Studie sank die mittlere Genesungszeit von der ersten Corona-Welle (Wildtypvirus, Februar bis Mai 2020) bis zur sechsten Welle (Omikron Oktober 2021 bis Februar 2023) von zunächst 28 Tagen auf 14 Tage, mit Impfung auf 10 Tage.

Darüber, welches Risiko auch heute noch von Sars-CoV-2 angesichts neuer Varianten und guter Immunitätslage ausgeht, gibt es unter Fachleuten durchaus unterschiedliche Auffassungen. Das bezieht sich auf die akuten Symptome, aber auch auf die Langzeitfolgen einer Infektion. Der Neurowissenschaftler und Long-Covid-Spezialist David Putrino von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai etwa sagt, eine milde Covid-19-Erkrankung gebe es nicht.

"Was Herr Putrino sagt, stimmt nicht", so die gegenteilige Meinung von Ulf Dittmer, Virologe am Universitätsklinikum Essen. Sars-CoV-2 sei ein ganz normaler Atemwegserreger. "Wir sehen weiter seltene komplizierte Fälle, aber die gibt es genauso mit RSV oder Influenza", so Dittmer.

Judith Bellmann-Strobl von der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie an der Charité in Berlin ordnet Covid-19 hinsichtlich der Erkrankungsschwere und den Folgerisiken in die gleiche Kategorie ein wie eine EBV-Infektion oder die Influenza-Grippe. Ein klassischer Atemwegserreger wie Rhinoviren sei Sars-CoV-2 nicht. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch nach einer Re-Infektion "die durch wissenschaftliche Studien belegten Risikoerhöhungen nach Covid-19 – zum Beispiel für kardiovaskuläre Ereignisse – erneut auftreten. Auch ein post-infektiöses Syndrom, wozu Long- oder Post-Covid gehörten, trete nach klassischen Erkältungskrankheiten nur im Ausnahmefall auf.

In einer großen Studie aus Singapur nahmen knapp 376.000 Personen teil, das mittlere Alter betrug 48 Jahre. Die Studie beobachtete sie 300 Tage nach ihrer Corona-Infektion – hauptsächlich während der Omikron-Phase – und ergab kein erhöhtes Risiko für eine neu auftretende Herz-Kreislauf-Erkrankung. Allerdings stieg das Risiko für Herzrhythmusstörungen leicht an. Fast alle teilnehmenden Personen, 97,5 Prozent, hatten eine milde Covid-19-Erkrankung durchgemacht.

Long Covid, Post Covid – wie groß ist das Risiko?

Bernhard Schieffer, Direktor der Klinik für Kardiologie und Leiter der Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, äußerte sich vor Kurzem in einem Interview mit alarmierenden Zahlen: Jede Corona-Welle generiere weiterhin zwischen acht und 15 Prozent neue Long- oder Post-Covid-Fälle, "was laut WHO und RKI auch so bleiben wird". Auf Nachfrage schränkt der Kardiologe zwar ein, dass die Zahlen stark variierten, aber die "Expertenmeinung ist 10 bis 15 Prozent".

Schieffer fügt die offiziellen Zahlen des European Centre for Disease Prevention and Control bei, die für manches Symptom sogar eine Häufigkeit bis zu 51 Prozent veranschlagten. Allerdings: Die Zahlen stammen aus einem systematischen Review aus dem Jahr 2022. Diese Übersicht berücksichtigt die Auswirkungen der Omikron-Welle noch nicht und bezieht sich eher auf die Folgen der ersten Corona-Wellen, in denen es teilweise auch noch keine Covid-19-Impfung gab.

"Geimpfte oder genesene Personen kriegen viel seltener Long Covid, als das bei Erstinfektionen in Ungeimpften oder nicht vollständig Geimpften der Fall war", sagt Ulf Dittmer. Große Studien belegten dies. In einem systematischen Review chinesischer Forschender aus dem Jahr 2022 senkt eine Covid-19-Impfung das Risiko für Long Covid beispielsweise um 29 Prozent.

Zur Frage, wie groß das Risiko aktuell ist, nach einer Corona-Infektion Long Covid oder Post Covid zu entwickeln, gibt es ihres Wissens insbesondere aus Deutschland keine Daten, sagt Judith Bellmann-Strobl. Bei der Beurteilung des Verlaufs nach Covid-19 müsse klar gemäß der Begriffsdefinitionen unterschieden werden, betont die Medizinerin: "Long Covid bedeutet, dass die Betroffenen länger als vier Wochen nach der Akutinfektion noch unter Symptomen leiden." Erst nachdem die Beschwerden länger als 12 Wochen anhielten, werde gemäß der WHO-Definition vom Post-Covid-Syndrom gesprochen.

"Die von Professor Schieffer angegebene Größenordnung ist realistisch in Bezug auf Long Covid. Viele dieser Betroffenen genesen jedoch im Laufe der nächsten Wochen und Monate", so Bellmann-Strobl. Die Verlaufsbeobachtungen im eigenen klinischen Alltag zeigen jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Genesung im Rahmen von etwa 1,5 Jahren eher gering ist, wenn:

  • eine ausgeprägte Fatigue vorliegt,
  • die Symptome länger als sechs Monate anhalten und wenn
  • eine Belastungsintoleranz besteht.

"Nach dem derzeitigen Kenntnisstand entwickeln 1 bis 3 Prozent der Akut-Covid-Erkrankten das Vollbild ME/CFS im Verlauf." Eine Studie aus den USA belegt dies ganz gut. Allerdings stammen die Daten von Patienten und Patientinnen, die zu Beginn der Pandemie, zwischen Februar 2020 und Februar 2021 an Covid-19 erkrankten.

Was sagt das RKI?

Auf die Frage nach der Häufigkeit von Long Covid gab das RKI zuletzt aktualisiert am 22.8.2023 zusammengefasst diese Antworten: "Die genaue Häufigkeit von Long Covid kann weiterhin nicht verlässlich geschätzt werden." Grund sei das Fehlen qualitativ guter Studien, die wenigsten führten beispielsweise eine Kontrollgruppe mit. Das RKI zitiert etwa eine Meta-Analyse von Daten aus Großbritannien aus dem Jahr 2022: Danach läge die Häufigkeit von Long Covid zwischen 3 und 13,7 Prozent, für Post Covid zwischen 1,2 und 4,8 Prozent.

Es gebe zunehmend Hinweise, dass sich die Häufigkeit von Long Covid je nach Virusvariante unterscheide "und nach Infektionen mit der Omikronvariante niedriger sein könnte als nach Infektionen mit früheren Virustypen." Insgesamt seien die gesundheitlichen Langzeitfolgen nach einer Sars-CoV-2-Infektion aber wohl häufiger als nach einer Influenza-Grippe – die Bewertung aber wegen der Komplexität und Verschiedenartigkeit der Studien, der Infektions- und Impfhistorie und der Symptomvielfalt der Teilnehmenden schwierig.

Impfungen in Kombination mit einer Durchbruchinfektion führen in der Regel zu einer soliden Immunität, die vor schweren Covid-19-Verläufen und damit indirekt auch vor Long Covid schützt – denn das Risiko für Langzeitfolgen ist nach einer schweren Covid-19-Erkrankung größer. Aber andersherum schließen milde Infektionen das Risiko für Long Covid nicht völlig aus.

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Wer sollte sich die Booster-Impfung holen?

"Wenn Sie zu einer Risikogruppe gehören und in den letzten 6 bis 12 Monaten (je nach Risikogruppe) nicht gegen Covid-19 geimpft wurden, sprechen Sie bitte mit Ihrem Gesundheitsdienstleister, um eine zusätzliche Dosis mit einem der zugelassenen Covid-19-Impfstoffe zu erhalten", schreibt WHO-Expertin Maria Kerkhove.

Gerade hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA die an die Omikron-Variante JN.1 angepassten mRNA-Impfstoffe von Biontech und Pfizer für die Impfsaison 2024/25 empfohlen. In den USA haben sich die zuständigen Behörden überraschend dafür ausgesprochen, statt auf an JN.1 auf an KP.2 angepasste Impfstoffe zu setzen, da diese die Variante JN.1. zunehmend verdränge.

Auch wenn der öffentliche Gesundheitsnotstand beendet ist, muss sichergestellt werden, "dass alle Menschen vor den schweren, negativen Auswirkungen von Covid-19 geschützt sind", schrieben US-Forschende von der Emory University in Atlanta im Frühling dieses Jahres.

Sars-CoV-2 zirkuliert noch nicht mit vorhersehbaren saisonalen Schwankungen, schreibt Maria Van Kerkhove. Unser Verständnis der akuten und langfristigen Auswirkungen sei noch schwach. "Es gibt wenig Bemühungen, die Verbreitung zu verhindern." Dabei bliebe die Prävention von Infektionen wichtig – auch wenn die Gesamtauswirkungen von Covid-19 geringer sind als diejenigen in den Jahren 2020 bis 2022.

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