Lange hat Mia Gatow den Rausch geliebt und Drama und Drinks waren fester Bestandteil ihrer Identität. Bis sie eines Tages Schluss machte mit dem Alkohol und die Schönheit des nüchternen Lebens erkannte. Im Interview erzählt die Autorin von Abhängigkeit, Nüchternheit und den Mythen, die wir Menschen uns erzählen, um weiterzutrinken.

Ein Interview

Frau Gatow, wer waren Sie, wenn Sie getrunken haben?

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Mia Gatow: Ich glaube, ich war eine ziemliche Rampensau. Ich war auf jeden Fall lustig, laut und draufgängerisch. Kurzum: immer für abgefahrene Dinge zu haben. Manchmal war ich aber auch ein bisschen aggro und habe Streit vom Zaun gebrochen. Aber insgesamt war ich ziemlich unterhaltsam, wenn ich getrunken habe.

Hat sich die Alkoholsucht in Ihrem Fall auch körperlich bemerkbar gemacht?

Auf jeden Fall. In meinem Fall wurden irgendwann die Kater immer schlimmer. Damit meine ich zum Beispiel extreme Kopfschmerzen, Übelkeit und das Gefühl, geistig gar nicht wirklich anwesend zu sein. Dazu kamen dann noch depressive Zustände, die zwar nicht zwingend eine körperliche Symptomatik waren, aber natürlich stark mit meinem Körper zusammenhingen. Denn Alkohol und Kater sorgen im Zusammenspiel für diese niedergeschlagenen Zustände, unter denen ich für meinen Teil sehr stark litt.

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Gab es irgendwann einen Schlüsselmoment, in dem Ihnen bewusst wurde, dass Sie mit dem Trinken aufhören müssen?

Einen wirklichen Moment gab es nicht. Vielmehr gab es Tausende Kater und einer davon war einer zu viel. In meinem Fall fiel das Ganze aber mit einer Trennung zusammen: An meinem letzten Trinktag habe ich mich von dem Mann getrennt, mit dem ich damals zusammen war und ich hatte eine Mischung aus einem Kater und Liebeskummer. Dieser Kater war sicher nicht der schlimmste Kater, den ich je hatte – dennoch hat er mich irgendwie über eine unsichtbare Grenze geschubst. Es ist nichts Dramatisches passiert in diesem Zusammenhang – es war einfach nur dieser eine Kater zu viel.

In Ihrem Fall gab es also keinen Tiefpunkt, den Sie erst erreichen mussten, ehe Sie nüchtern wurden …

Meiner Meinung nach handelt es sich bei diesem viel beschriebenen Tiefpunkt um einen Mythos. Keine suchterkrankte Person muss so lange warten, bis Existenz und Gesundheit dahin sind. All diese Probleme lassen sich viel früher in den Griff bekommen. Man kann sich selbst in seinem Leidensdruck immer so ernst nehmen, dass man all diese Katastrophen nicht braucht. Und mittlerweile kenne ich auch viele Menschen, die genau das machen und früher intervenieren. Das kann aber nur passieren, weil endlich mehr Aufklärung und Entstigmatisierung passiert.

"Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Trinken absolut normal ist."

Mia Gatow

Ihren persönlichen Weg zur Nüchternheit beschreiben Sie in Ihrem Buch "Rausch und Klarheit". Darin stellen Sie eine These auf: Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt. Was genau meinen Sie damit?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Trinken absolut normal ist. Es ist nicht nur normalisiert, sondern wird auch gefordert und wer nicht trinkt, muss sich erklären. Trinkende fühlen sich von Nicht-Trinkenden gestört. Die allermeisten Erwachsenen in unserem Land trinken und haben sich gewissermaßen darauf geeinigt, dass im Rahmen sozialer Events getrunken wird. Insofern basieren all unsere Interaktionen darauf, dass wir uns kollektiv betäuben. Und wenn man genau dabei nicht mitmacht, hat das Konsequenzen. In der Nüchternheit muss ich mein Leben auf den Prüfstand stellen: Ich kann nichts mehr dauerhaft machen, was ich nur betäubt ertrage – das betrifft Jobs, Menschen, Hobbys. Wenn man nüchtern ist, muss man sich ein Leben bauen, dem man nicht entkommen will. Und eine Gesellschaft, in der sich niemand mehr betäubt, würde radikal anders aussehen.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von einem Missverständnis, warum man überhaupt anfängt, Alkohol zu trinken: Weil man denkt, es mache einen zu etwas Besonderem. Wie kommt es zu diesem Missverständnis?

Das haben wir Filmen und Werbung zu verdanken, die uns seit Jahren diese Geschichten verkaufen. (lacht) Ich habe Design studiert und dieser Studiengang geht gewissermaßen mit dem Selbstbild einher, nur kreativ und künstlerisch sein zu können, wenn man sich berauscht. Denn nur im Rausch könne die vermeintliche Wahrheit und Tiefe des Lebens liegen. Aber das ist nur eine der vielen Storys, die um den Alkohol gestrickt wird: Alkohol steht häufig für Sinnlichkeit, tiefgehende Gespräche oder engere Bindungen. Er steht aber auch für eine gewisse Rebellion, wenn man vermeintlich viel verträgt – ein Selbstbild, das auch ich von mir hatte.

Inwiefern?

Ich bin eine Frau und wir Frauen sind eher sozialisiert für Zurückhaltung. Doch ich war immer ein sogenanntes Cool Girl, das eher mit den Jungs trinken wollte. Genau das sind die Narrative und Geschichten, die wir uns seit Jahrzehnten erzählen und uns glauben – so kommt es zu dem Missverständnis, Alkohol mache uns zu etwas Besonderem. Dabei fällt uns aber nicht auf, dass all das nichts Besonderes ist, weil eben so gut wie alle Menschen trinken.

Sie beschreiben Trinken als Ritual, dem die meisten Menschen nachgehen – wann ist aus Ihrer Sicht die Grenze zur Abhängigkeit überschritten?

Man hat Leidensdruck. Natürlich sprechen wir hier von einem langsamen, graduellen Prozess, aber der Alkohol hat seinen Preis. Der Kater ist hier natürlich der offensichtlichste Preis, den man zahlen muss und der im Laufe der Jahre oft immer schlimmer wird. Häufig beginnen die Menschen aber auch, den Alkohol über alles andere zu priorisieren. Sie gehen nur noch zu Events, bei denen es Alkohol gibt, treffen sich nicht mit Menschen, die nüchtern bleiben, oder trinken vielleicht auch alleine. Heißt: Die Menschen beschäftigen sich immer mehr mit der Integration des Drinks in das eigene Leben. Diese Priorisierung macht depressiv und isoliert, was dazu führt, dass die Menschen beginnen zu leiden. In diesem Moment sollte man sich dann die Frage stellen, woher das Leid kommt.

Konnten Sie sich damals diese Frage des Leids direkt beantworten?

Nein, die direkte Verbindung konnte auch ich anfangs nicht erkennen. Ich wusste zwar, dass meine Beziehung mit dem Alkohol nicht gesund ist, aber mir war lange Zeit nicht bewusst, dass der Alkohol dafür verantwortlich ist, dass ich unglücklich war. Insofern dachte ich vielmehr, der Alkohol sei eines meiner Probleme – dabei war er die tragende Säule meiner Probleme.

"Wer den Alkohol [...] genussvoll in einem schönen Glas inszeniert oder zufälligerweise etwas über Tannine oder das Bouquet weiß, kreiert den Irrglauben, hierbei handele es sich um Genuss und nicht um Drogenkonsum."

Mia Gatow

Lassen Sie uns von den sogenannten "Genusstrinkern" sprechen – gibt es diese Menschen Ihrer Meinung nach wirklich oder sind hier wieder die Narrative aus Film und Werbung im Spiel?

Natürlich spielt hier die Werbung eine große Rolle. Getränke wie Rotwein oder Cognac werden in diesem Zusammenhang mit Luxus und Belohnung assoziiert und erhalten demnach eine Art Wellness-Status. Das sind typische Werbemaßnahmen. Zum anderen ist es aber auch ein Schutz für die trinkende Person. Denn sich unter dem Deckmantel des Genusses zu verstecken, ist einfacher, als sich eingestehen zu müssen, wirkorientiert zu trinken. Wer den Alkohol dann noch genussvoll in einem schönen Glas inszeniert oder zufälligerweise etwas über Tannine oder das Bouquet weiß, kreiert den Irrglauben, hierbei handele es sich um Genuss und nicht um Drogenkonsum.

Wie stehen Sie zu Trends wie etwa dem Dry January?

Natürlich ist es begrüßenswert, wenn Menschen nicht trinken. Was ich jedoch kritisch sehe, ist, dass viele Menschen eine temporäre Trinkpause einlegen, um sich zu beweisen, nicht abhängig zu sein. Wurde dieser begrenzte Zeitraum durchgehalten, trinken sie weiter, weil sie ja vermeintlich kein Problem haben. Das basiert auf dem Mythos, man sei nur dann ein richtiger Trinker, wenn man jeden Tag Alkohol braucht.

Mia Gatow über ihren Weg in die Nüchternheit

Mia Gatow, die Autorin des Buches "Rausch und Klarheit“, lebte jahrelang in einer Alkoholabhängigkeit. In einem Interview mit uns spricht sie über die Rolle des Alkohols in unserer Gesellschaft und ihren Weg in die Nüchternheit.

Was ich bei diesen Trends jedoch noch schwieriger finde, ist, dass die wirklichen Vorteile und Errungenschaften der Nüchternheit sich nicht nach vier Wochen Abstinenz zeigen. Natürlich wird während einer vierwöchigen Trinkpause im Dry January die Haut etwas besser und man verliert womöglich ein paar Kilos, aber mit der wirklichen Nüchternheit passieren noch viel bessere Sachen. Insofern ärgere ich mich auch manchmal über Journalistinnen und Journalisten, die darüber schreiben, wie es ist, vier Wochen nichts zu trinken, ohne wirklich beurteilen zu können, was es bedeutet, wirklich nüchtern zu sein.

Was bedeutet Nüchternheit für Sie?

Nüchternheit bedeutet für mich Souveränität. Nur nüchtern habe ich die Chance bekommen, ich selbst zu sein, das Leben zu führen, das ich wirklich führen will und mich abzugrenzen von Dingen, die mir nicht guttun. Somit ist Nüchternheit für mich die Grundvoraussetzung für ein souveränes Leben, das mir alles bedeutet. Es ist für mich das Fundament für Ehrlichkeit, für Unabhängigkeit und echte Verbindung zu Menschen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Mia Gatow ist freie Autorin in Berlin und produziert zusammen mit Mika Döring den "SodaKlub – Podcast für Unabhängigkeit", der die Schönheit des nüchternen Lebens feiert. Im September ist ihr Buch "Rausch und Klarheit" erschienen.
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