- Experten bestätigen, dass für den Großteil der Bevölkerung eine vierte Impfung nicht erforderlich ist.
- Aus immunologischer Sicht bräuchten Immungesunde unter 70 Jahren den zweiten Booster nicht.
- Bei älteren und immungeschwächten Menschen hingegen reagiert die Körperabwehr nicht so gut auf die Immunisierungen.
- Daher ist Auffrischung mit dem zweitem Booster für Risikogruppen nach wie vor sinnvoll und wichtig.
Die Impfpflicht ist vorerst gescheitert, die Omikron-Welle ebbt ab. Welche Corona-Varianten sich im Herbst zeigen und wie ansteckend und gefährlich sie sein werden, weiß zurzeit keiner so genau. Aber wie geht es jetzt im Sommer mit dem Impfen weiter und vor allem im Herbst? Wer braucht den zweiten Booster und wann ist dafür der richtige Zeitpunkt?
Um genau diese Fragen ging es jetzt bei einer Veranstaltung des Science Media Center mit Christine Falk (Medizinische Hochschule Hannover), Christoph Neumann-Haefelin (Universitätsklinikum Freiburg) und Andreas Radbruch (Deutsches Rheumaforschungszentrum Berlin).
Wer braucht den zweiten Booster und wer erst einmal nicht?
Nicht nur für COVID-19, sondern ganz allgemein für Virusinfektionen gilt: immungesunde, jüngere Menschen haben in der Regel ein geringeres Risiko schwer zu erkranken als immungeschwächte und/oder alte Menschen. Aus immunologischer Sicht bräuchten Immungesunde unter 70 Jahren den zweiten Booster nicht, sagt die Immunologin Christine Falk, die Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung ist. Die Corona-Impfung bewirkt bei Immungesunden einen lang andauernden Schutz vor schwerem COVID-19. Eine Ansteckung mit dem Coronavirus verhindert sie nur eingeschränkt, daran ändert auch ein häufiges Boostern nichts. Darüber sind sich die drei Fachleute einig.
Antikörper und T-Zellen gingen mit der Zeit zwar herunter, ganz verschwinden würden sie aber nicht, so Falk. Natürlich gebe es auch bei den Jüngeren vereinzelt Menschen, die keine "High-Responder" seien, deren Immunabwehr also auf die Impfung nicht optimal reagiert. Falk hält die von der STIKO gewählte Altersgrenze für sinnvoll, da es unter ihnen zwar noch viele mit guter Immunantwort, aber eben auch schon einige mit einer geschwächten, gealterten Abwehrlage gebe.
Anders sieht die Situation für Immungeschwächte, zum Beispiel Transplantierte oder Krebskranke, und sehr alte Menschen aus. Ihre Körperabwehr antwortet nicht so gut auf die Immunisierungen. Eine zweite Auffrischung macht hier unbedingt Sinn. Individuell abgestimmt, je nach Art der Immunschwäche, möglicherweise auch weitere Corona-Impfungen. 60 Prozent der Frauen und Männer, die mit einem Lungentransplantat leben, hätten laut einer Studie selbst nach der zweiten Impfung überhaupt noch keine Antikörper gegen das Coronavirus gebildet, berichtet Falk. Hier ist eine dritte, vierte oder sogar fünfte Impfung extrem wichtig.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für die vierte Impfung?
Menschen mit einer Immunschwäche reagierten wesentlich langsamer auf eine Impfung. Zum Teil zeige sich eine Reaktion erst nach der dritten oder vierten Impfung wie bei Gesunden schon nach der zweiten Impfung, erklärt Christoph Neumann-Haefelin. Eine vierte Impfung mache bei diesen Personen ab einem zeitlichen Abstand von drei Monaten nach der dritten Impfung Sinn.
Beim Bevölkerungsdurchschnitt könne und sollte man sich Zeit lassen. Wenn überhaupt, dann frühestens sechs Monate nach der dritten Impfung. Für den Großteil der Bevölkerung sei keine vierte Impfung erforderlich, sagt auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg gegenüber der "Neuen Zürcher Zeitung". Nach der Grundimmunisierung mit drei Impfungen stehe als natürlicher Booster vielmehr der Kontakt mit dem Virus an.
Warum sind die Empfehlungen zum zweiten Booster international unterschiedlich?
Die STIKO empfiehlt den zweiten Booster aktuell für Menschen ab 70, für Immungeschwächte, für Bewohner von Pflegeheimen und medizinisches Personal. Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte den zweiten Booster für alle ab 60 Jahren favorisiert.
Die Europäische Arzneimittel-Agentur rät, vorerst nur die über 80-Jährigen ein viertes Mal zu Impfen. In den USA liegt die Altersgrenze bei 50. Offenbar schätzen internationale Fachleute unterschiedlich ein, ab welchem Lebensalter die alternde Körperabwehr eine weitere Auffrischung des Immungedächtnis benötigt.
Zeigen die vielen Omikron-Infektionen nicht, dass alle doch weitere Booster brauchen?
Angesichts der aktuell vielen Omikron-Infektionen trotz Impfung, kommen womöglich Zweifel über die tatsächliche Schutzwirkung der Immunisierungen gegen COVID-19 auf. Um das Ziel zu erreichen, schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden, sind die verfügbaren Impfstoffe jedoch sehr gut geeignet. Die Corona-Impfung aktiviert die zwei wesentlichen Zellgruppen der anpassungsfähigen Immunabwehr: B-Zellen stellen nach der Immunisierung Antikörper gegen das Spike-Protein des Virus her. T-Zellen können Körperzellen angreifen, die bereits mit dem Virus infiziert sind und so verhindern, dass sich eine Infektion im Körper ausbreitet. Dadurch verläuft die Erkrankung weniger schwer oder wird im Idealfall überhaupt nicht bemerkt.
Bei Omikron sind die äußeren Anteile des Spike-Proteins etwas verändert. Daher braucht es rund 25-mal mehr neutralisierende Antikörper, um eine Ansteckung zu verhindern als bei den anderen Virusvarianten.
Ein dauerhafter Ansteckungsschutz lässt sich bei Coronaviren offenbar nicht erreichen – auch nicht durch ein wiederholtes Aufboostern oder mehrere durchgemachte Infektionen. Das zeigen auch die Erfahrungen mit den anderen Erkältungs-Coronaviren, die schon seit vielen Jahrzehnten zirkulieren. Warum ein (zu) häufiges Boostern von Immungesunden bei der Körperabwehr keinen bleibenden Eindruck hinterlässt beziehungsweise den Schutz nicht noch weiter steigern kann, erklärt Andreas Radbruch: Wenn man ein Antigen immer an der gleichen Stelle in den Körper gebe, zum Beispiel über eine Injektion in den Oberarm, werde das Immunsystem seine Antwort an dieser Stelle so hochfahren, dass das gespritzte Antigen beziehungsweise die mRNA von den Immunzellen sofort abgefangen wird.
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Wie lange hält die schützende Immunantwort an?
Direkt nach der zweiten oder dritten Impfung produzieren die B-Zellen meist so viele Antikörper, dass die Menge ausreicht, um die Viren vollständig zu blockieren. Bei Corona sei dieser komplette Infektionsschutz durch die Antikörper aber nur vorübergehend, erläutert Christoph Neumann-Haefelin bei der Veranstaltung des SMC. Einige Wochen nach der Vakzinierung sinke der Antikörperspiegel auf einen niedrigeren Wert ab. Aber es bilden sich Gedächtniszellen, die nach einem erneuten Kontakt zum Virus rasch aktiviert und Antikörper herstellen können.
Die Antwort der T-Zellen sei relativ robust. Sie halte mindestens 300 Tage nach der zweiten Impfung an, berichtet Neumann-Haefelin von eigenen Untersuchungsergebnissen. Nach einer dritten Impfung erhöhe sich die Menge der T-Zellen zwar vorübergehend, sinke dann aber wieder auf den Pegel ab, der nach der zweiten Impfung erreicht wurde. Auch auf eine vierte Impfung reagierten die T-Zellen zwar noch. Aber bei gesunden Erwachsenen ließe sich der T-Zell-Schutz durch einen erneuten Booster nicht weiter steigern.
Muss man sich wegen der absinkenden Antikörper-Spiegel Sorgen machen?
Dass der Antikörper-Spiegel nach einer Impfung oder Infektion langsam absinke, sei ein völlig normaler Vorgang, sagt der Immunologe Andreas Radbruch vom Deutschen Rheumazentrum in Berlin. Die Immunabwehr ist anpassungsfähig und reagiert auf die Menge der tatsächlich vorhandenen Erreger oder Virusbestandteile. Da es im Laufe der Zeit immer weniger Antigen (Virusbestandteile) gebe, brauche es auch weniger Antikörper, um diese aus dem Verkehr zu ziehen.
Durch die "Konkurrenz" um immer weniger Antigen, kämen nur noch diejenigen Antikörper zum Zuge, die die Virusbestandteile besonders gut binden würden, so Radbruch: "Es gibt weniger Masse, aber die Klasse nimmt zu." Für diese Qualitätssteigerung, der Immunologe nennt sie "Affinitätsreifung", brauche die Körperabwehr eine gewisse Zeit, mindestens sechs Monate.
Wenn es weniger neutralisierende Antikörper gibt, steigt zwar das Risiko für eine Reinfektion. Doch auch die verbleibenden Antikörper tragen wie die T-Zellen dazu bei, dass sich das Virus im Falle einer Infektion nicht gut im Körper ausbreiten kann und der oder die Betroffene nicht schwer erkrankt.
Es gibt neben den neutralisierenden noch andere Antikörperarten, die an das Virus binden. Sie blockieren das Virus nicht vollständig, lagern sich aber an und markieren den Erreger dadurch, sodass beispielsweise Fresszellen ihn leichter erkennen und beseitigen können.
Wie lange produzieren die Immunzellen passende Antikörper?
Gedächtniszellen ziehen sich nach einer Infektion oder Impfung in die Lymphknoten oder das Knochenmark zurück und können über Jahre beziehungsweise Jahrzehnte Antikörper freisetzen und, sollte der Erreger zurückkommen, rasch die Produktion qualitativ hochwertiger Antikörper hochfahren.
Nach Angaben von Andreas Radbruch gibt es bei den COVID-19-Genesenen und bei den Geimpften zahlenmäßig ungefähr gleich viele Gedächtniszellen im Knochenmark, die Antikörper gegen das Coronavirus herstellen. Ihre Menge entspricht sogar derjenigen, wie sie nach Tetanus- oder Masern-Impfungen auftreten. Hier hält der Immunschutz ja bekanntlich mindestens zehn Jahre an. Es gebe Untersuchungen an Menschen, die sich 2003 mit SARS-CoV-1 infiziert hätten, berichtet Radbruch. In den ersten Monaten nach der Erkrankung waren die gegen das Virus gerichteten Antikörper zwar weniger geworden, hatten sich dann aber mindestens 17 Jahre auf niedrigem Niveau gehalten. Die wenigen Abwehrmoleküle, die nach so langer Zeit blieben, seien extrem gut und daher hochwirksam schützend.
Was ist mit den Menschen, die überhaupt nicht auf die Impfung reagieren?
Man müsse auch damit leben, dass bestimmte Menschen überhaupt nicht auf diese Impfung reagieren könnten, weil sie zum Beispiel eine dauerhafte Immunsuppression bräuchten, ergänzt Andreas Radbruch. Aber auch für diese besonders Gefährdeten gebe es als Alternative die passive Immunisierung – Antikörper-Cocktails, die man injizieren könne und die bis zu einem halben Jahr sehr gut schützen würden.
Zur besonders gefährdeten Gruppe für schwere COVID-19-Verläufe zählen auch vier Prozent der Über-70-Jährigen. Ihre Immunantwort ist geschwächt, weil sie Auto-Antikörper gegen körpereigenes Interferon bilden. Gerade das Interferon nimmt bei der Verteidigung vor Viren eine wichtige Position ein. Schaltet der Körper diesen zentralen Signalstoff autoimmunologisch aus, müssen besonders viele der Betroffenen nach einer Corona-Infektion intensivmedizinisch behandelt werden. Bei 20 Prozent der Intensivpatienten finden sich Auto-Antikörper gegen Interferon.
Vierte Impfung: Sinnvoll für medizinisches Personal?
Bei der Empfehlung, medizinisches Personal ein viertes Mal zu impfen, sei wohl weniger der Eigen- sondern der angestrebte Fremdschutz entscheidend, sagt Neumann-Haefelin. Die Idee: Durch das erneute Boostern verringere sich im Falle einer Ansteckung die Viruslast, beim Husten verbreite man weniger Virus, das Risiko für andere – Patienten, Betreute – sich anzustecken, sinke.
Der Freiburger Forscher hat allerdings gewisse Zweifel, ob die vierte Impfung hier tatsächlich einen so großen Unterschied mache. Dennoch hält er es für eine sinnvolle Empfehlung, Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, nach einem Mindestabstand von sechs Monaten erneut zu boostern.
Schützen die Impfungen auch vor neuen Corona-Varianten?
"SARS-CoV-2 hat es bisher noch nicht geschafft, der existierenden Immunantwort, die man durch die gegenwärtigen Impfstoffe oder durch die Infektion mit Alpha bis Delta erreicht, komplett zu entgehen", macht Andreas Radbruch auch für den nächsten Herbst Mut. Der untere Bereich des Spike-Proteins sei sehr konstant, ergänzt Christine Falk. Es sei unwahrscheinlich, dass sich dieses Virus noch so verändere, dass diese Bereiche von den Immunzellen nicht mehr erkannt werden könnten.
Andreas Radbruch sieht optimistisch in die Zukunft: "Das Virus kommt nicht raus aus der Umklammerung des Immunsystems, bisher jedenfalls nicht." Natürlich könne auch eine schlimmere neue Variante auftauchen, aber das wäre dann eher ein ganz neues Virus. "Eigentlich hat diese Pandemie gezeigt, dass wir mit diesem Virus ganz gut fertig werden."
Verwendete Quellen:
- Science Media Center Germany: "Nutzen und Perspektive weiterer COVID-19-Booster"
- Neue Züricher Zeitung: "Ein Gesundheitsminister sollte alle Gesundheitsgefahren im Blick haben und nicht nur Corona": Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit kritisiert die deutsche Pandemiepolitik
- Deutsche Apotheker Zeitung: Zweiter Booster: EU-Staaten wollen einheitlich vorgehen
- Deutsche Apotheker Zeitung: EMA: Vierte Dosis nicht für jeden
© RiffReporter
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