Berlin (dpa) - Drei Monate lang waren Busse und Bahnen in Deutschland ein großes wissenschaftliches Labor. Forschungsfrage: Wie nutzen Verbraucherinnen und Verbraucher den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), wenn er mit 9 Euro pro Monat supergünstig ist? Möglich machte es das 9-Euro-Ticket, das in wenigen Tagen endet und mit dem die Bundesregierung ursprünglich die Bürger finanziell entlasten wollte. Längst ist es auch Hoffnungsträger für eine schnellere nachhaltige Verkehrswende. Zu Recht?
Aufschluss gab am Montag eine erste Gesamtbilanz des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), der gemeinsam mit der Deutschen Bahn die umfangreichste Umfrage nur Nutzung des 9-Euro-Tickets durchführt. Rund 78.000 Verbraucherinnen und Verbraucher wurden im Rahmen der Untersuchung über den dreimonatigen Nutzungszeitraum des Tickets befragt - Käufer und Nicht-Käufer.
Rund 52 Millionen Tickets seien demnach über den gesamten Zeitraum bundesweit verkauft worden, teilte der VDV mit. "Hinzu kommen mehr als zehn Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, die das vergünstigte Ticket jeweils monatlich über den Aktionszeitraum automatisch erhalten haben", hieß es.
Unter den Ticketkäufern auch neue ÖPNV-Nutzer
Jeder fünfte Käufer war demnach zuvor noch nie mit dem ÖPNV unterwegs gewesen. 27 Prozent waren sogenannte "aktivierte Kunden", die Busse und Bahnen zuvor seltener als ein Mal im Monat genutzt haben. Das Ticket hat also die Nachfrage im ÖPNV deutlich gesteigert. "Das ist erstmal ein Erfolg", sagte Bremens Verkehrssenatorin und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, Maike Schaefer (Grüne), am Montag. "Auch ein günstiger Tarif spielt eine Rolle, wenn die Menschen sich entscheiden: Wie möchte ich mich fortbewegen?"
Doch die Untersuchung macht auch deutlich, dass der Preis nicht der einzige Faktor ist. Denn gekauft wurde die Sonderfahrkarte vor allem in städtischen Regionen, in denen das ÖPNV-Angebot in der Regel gut ausgebaut ist und Busse und Bahnen eng getaktet unterwegs sind. "In ländlichen und strukturschwächeren Gebieten ist der Anteil der 9-Euro-Ticket-Besitzer nur halb so hoch wie in städtischen Gebieten", teilte der VDV mit.
"Ein billiges Ticket taugt nichts, wenn das Angebot schlecht ist", sagte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) bei der Vorstellung der Ergebnisse. Die Länder fordern von der Bundesregierung deshalb eine deutliche Aufstockung der sogenannten Regionalisierungsmittel, mit denen der Bund den ÖPNV in den Ländern und Kommunen mitfinanziert.
Abweichende Studien zur CO2-Ersparnis
Unterschiedliche Ergebnisse gibt es zudem beim Thema Verkehrsverlagerung. Der VDV-Umfrage zufolge haben rund zehn Prozent der Nutzerinnen und Nutzer des 9-Euro-Tickets mindestens einmal ihr Auto zugunsten von Bus oder Bahn stehen lassen. 1,8 Millionen Tonnen CO2 seien auf diese Weise eingespart worden, rechnet der Verband weiter aus.
Doch andere Studien kommen zu deutlich niedrigeren Werten. Das RWI-Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen etwa hat für den gleichen Zeitraum eine mindestens drei Mal niedrigere CO2-Ersparnis errechnet.
Aus den Befragungen der Essener Forscher ergibt sich zudem, dass sich nicht nur die Nutzung des ÖPNV während des 9-Euro-Ticket-Zeitraums erhöht habe, sondern auch die Autonutzung generell. Selbst Käufer des 9-Euro-Tickets saßen im Juni im Schnitt 18 Kilometer pro Woche mehr im Auto als bei einer Umfrage vor der Einführung des 9-Euro-Tickets im April. Das kann laut RWI-Studienautor Mark Andor mehrere Gründe haben - etwa die Senkung der Spritpreise oder ein generell höheres Mobilitätsverhalten nach den Beschränkungen in der Corona-Krise.
Dennoch halten die Bundesländer den Druck auf die Bundesregierung hoch, möglichst schnell einen Vorschlag für eine Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket zu präsentieren. Dabei müsse aber auch klar sein: "Wenn bei einem Anschlussangebot wieder die Systemfinanzierung nicht mitgemacht wird, dann haben wir mit Zitronen gehandelt", sagte Verkehrsminister Hermann. "Das war schlecht aufgeteilt beim 9-Euro-Ticket."
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